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ZUM THEMA: „Eigentlich müssten wir dich umlegen später, sorry“

Man glaubt es nicht, aber über 1968 gibt es etwas Neues zu schreiben. Längst hat der Marsch durch die Institutionen die 68er-Prominenz – Gerhard Schröder, Joschka Fischer – in bürgerlich-behaglichen Verhältnissen ankommen lassen.

Man glaubt es nicht, aber über 1968 gibt es etwas Neues zu schreiben. Längst hat der Marsch durch die Institutionen die 68er-Prominenz – Gerhard Schröder, Joschka Fischer – in bürgerlich-behaglichen Verhältnissen ankommen lassen. Claudia Roth von den Grünen wird den Rückzug auf die Rente nicht ewig hinausschieben können – da kommt Karl Heinz Bohrer mit „Sechs Szenen Achtundsechzig“ – und schon strahlt der Mythos wieder.

Oder eher: Man ahnt, wie faszinierend die kurze Zeit sich angefühlt haben muss, die später mythisch verklärt wurde. Bohrer, Jahrgang 1932, dieser Inbegriff der Distanz, der Analytiker mit den Sinnen eines Künstlers, beschreibt in der ersten dieser Szenen, wie ihm 1970 der letzte Rest von linker Fasziniertheit ausgetrieben wurde. Das besorgte jemand, der 1968 vom selbstständigen Denken auf Glauben umgeschaltet hatte und zwei Jahre später, im Gespräch mit Bohrer, vom Gläubigen zum Ideologen geworden war. Es war die Zeit, in der die Ideologen denen, die nicht glauben wollten, Sätze wie den folgenden sagten: „Eigentlich müssten wir dich umlegen später, sorry.“

So kam es zum Glück aber nicht. Bohrers Szenen, geschrieben aus dem Abstand von 40 Jahren, erinnern an die Brutalität der ideologischen Auseinandersetzung zwischen denen, die damals das große Wort führten: Rudi Dutschke, Jürgen Habermas, Hans-Magnus Enzensberger, lauter intellektuelle Helden. Denn Bohrer, der Kritiker, hat recht mit der Wertung: „Gegenüber einer aktuellen Tendenz, Achtundsechzig herabzuwürdigen, erinnert man sich vor allem an einen sozusagen zivilisatorischen Gewinn: das Ernstnehmen theoretischer Spekulationen, die Versatilität in kontroversen Disputen, die ganze Fauna der Vorstellungskraft“.

Sechs Szenen – an ihnen und durch sie kann man das Wichtigste von dem erzählen, was 1968 zu einer bewegenden Zeit gemacht hat. Bohrer transportiert über diese Szenen in aller Kürze die Geistesgeschichte dieser Zeit – und darüber hinaus ein paar Anekdoten. Gewiss, es erzählt einer, der dabei gewesen ist – aber eben einer, der sich nie hat einfangen lassen und deshalb auch keinen Abstand herstellen muss. In diesen Szenen findet sich angetippt fast alles, was Achtundsechzig zum Mythos machte, von der Textversessenheit der angehenden Revolutionäre bis zum seriellen und konsequenten Bruch aller bürgerlichen Tabus. Vierzehn Seiten in einer Zeitschrift, die mehr Anregungen, mehr Gedanken, mehr Erkenntnis und vor allem mehr Esprit enthalten als die meisten Texte in dem Band „1968“, der erklären will, wie aus dem Ereignis ein Mythos wurde. Es ist wissenschaftliche Literatur im Stil von 1968 – schwer zu lesen, esoterisch in der Fragestellung, auf vielen Fußnoten balancierend. Sind wirklich noch Erkenntnisse zu erwarten, wenn es um „zwischennationale Diffusion und transnationale Strukturen“ geht? Zugegeben, das ist sicher der kryptischste der in dem Band versammelten, nicht gerade frischen Aufsätze. Aber die meisten von ihnen zeigen, dass die Zeiten vorbei sind, in denen die Achtundsechziger-Forschung ein Soziologenselbstzweck war.

Bohrer und neben ihm der französische Hochschullehrer Robert Frank machen in dem ansonsten weltabgewandten Buch deutlich, wie man Fragen stellt und Antworten gibt, die nicht im Staub von Archiven und linken Antiquariaten vergessen werden. Bohrer untersucht in seinem Essay von 1998, wie es 1968 um das Verhältnis von Politik und Fantasie stand. Schon damals stellte er fest, was heute alle gerne bilanzieren: Dass sich 1968 der „zivile“ Staat, zu ergänzen wäre: die Liberalität, gegenüber deutsch-autoritären Traditionen durchgesetzt habe. Robert Frank nimmt auf der Grundlage von Paris 1968 die Entstehung eines Mythos auseinander. Gut zu wissen, bei allem Überbau: Es ist Geschichte. Werner van Bebber

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