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In Gedanken sind wir bei dir. Statue im Hafen von Odessa.

© REUTERS

Literaturfestival Odessa: Freihafen der Ideen

Vom Schock der Russifizierung - und vom Leben am Wasser: Ein Besuch des Literaturfestivals Odessa.

„Am Anfang war das Meer“, heißt es in Ilya Kaminskys Gedichtband „Dancing in Odessa“: „Wir hatten die Brandung in unserem Atem und waren uns sicher, dass in unseren Adern Meerwasser floss.“ 1993 emigrierte der damals 16-Jährige mit seinen Eltern nach Kalifornien. Nicht nur von Adam Zagajewski wegen seiner Verbindung von Gedächtnis und Ekstase hochgelobt, ist Ilya Kaminsky ein würdiger Erbe von Isaac Babel und Joseph Brodsky. Als einer von rund 50 Gästen des 2. Internationalen Literaturfestivals Odessa kehrte er nun in seine Heimatstadt zurück, in der alle Straßen in leichter Neigung zum Meer führen und die sowjetischen Mädchen einst die schönsten Kleider trugen, da ihnen die Seeleute die entsprechenden Stoffe mitbrachten.

Viele der Wohnhäuser und Paläste aus den Epochen von Klassizismus, Jugendstil und Konstruktivismus leuchten sanft in dem in slawischen Gefilden so beliebten Milchgrün. Odessa war auch stets ein Freihafen der Ideen, wie Ivan Kozlenko betont, Schriftsteller und Leiter des Filmarchivs Oleksandr Dovzhenko in Kiew. Er restauriert die Produktionen der legendären ukrainischen Filmgesellschaft VUFKU, die ab 1922 im Verbund mit idealistischen Sowjet-Autoren die Speerspitze der Avantgarde bildete. Entscheidenden Anteil am Erfolg hatten dabei die vielen Sonnenstunden an der Schwarzmeerküste.

Überschwang der Begeisterung

Der VUFKU ist in Odessas Literaturmuseum ein eigener Raum gewidmet, in dynamischer Schräghängung nach Art des Moskauer Konzeptualismus. Insgesamt 16 Säle geleiten durch alle Epochen seit der Stadtgründung. In einem ovalen Raum in hellem Olivgrün mit plastischen Rankenmotiven an den Wänden ist Nikolai Gogol ein Altar errichtet, an dem in maßloser Verehrung sogar ein Trachtenhemd und eine Hose des „Revisor“-Autors aufgespannt sind.

„Es geschah, es geschah in Odessa!“ heißt es in Wladimir Majakowskis futuristisch-ungestümem Poem „Wolke in Hosen“ aus dem Jahr 1915. Ein ähnlicher Überschwang der Begeisterung entwickelte sich nun auch bei der zweiten Ausgabe des Internationalen Literaturfestivals Odessa. Dessen Leiter Ulrich Schreiber und Hans Ruprecht luden mit ihrem hervorragenden örtlichen Team an reizvolle Orte wie das Puppentheater oder das bei der odessitischen Jugend beliebte Loft „Terminal 42“ ein. Der Berliner Künstler Jakob Mattner gestaltete die sphärischen Bühnenbilder.

Ohne die Unterstützung des Auswärtigen Amtes im Rahmen der Östlichen Partnerschaft wäre dieser für die Ukraine nach wie vor ungewohnte Dialog der Zivilgesellschaft nicht möglich. Wie nötig solche Plattformen des Austauschs sind, zeigte beispielhaft der Auftritt von Sergej Zakharov und Sergej Mazurkevich aus Donezk. Sie präsentierten in Odessa ihre Folterszenen darstellende Graphic Novel „Dira“, was so viel wie Höhle bedeutet.

Vergangenheit und Gegenwart

Der gelernte Möbeldesigner Zakharov begann im Frühjahr 2014, mit heimlichen Street-Art-Aktionen gegen die russischen Kommandanten der selbst erklärten Volksrepublik Donezk zu protestieren. Er erntete viel Zustimmung der verängstigten Bevölkerung, die keineswegs nur prorussisch eingestellt sei, wie er betont. Er stellte die prorussischen Rebellen als Dämonen dar und galt bald als der „Banksy von Donezk“.

Zakharovs bekanntestes Graffiti zeigte den Kommandanten Igor Strelkov, der sich ein Gewehr an den Kopf hält. Darunter hatte er die Aufforderung „Just do it“ gesprüht – was hierzulande wohl höchstens eine Anzeige nach sich gezogen hätte. Der 49-Jährige aber wurde kurz darauf zweimal wochenlang inhaftiert und gefoltert – unter anderem wurden ihm dabei zehn Rippen gebrochen.

1794 auf Befehl Katharinas der Großen quadratisch angelegt, galt Odessa als die weibliche, mediterrane Antwort auf die erste russische Planstadt St. Petersburg. Doch ausgerechnet gegenüber jener 192 Stufen umfassenden Treppe, an der Sergej Eisenstein 1926 seinen Film „Panzerkreuzer Potemkin“ drehte, hat der Stadtrat die Errichtung eines horrend hässlichen Hotels genehmigt. Der leer stehende Wolkenkratzer stört empfindlich die Aussicht. Diese und andere architektonische Sünden der neuen Zeit, in der Geld mehr wiegt als Denkmalschutz, bewogen die Festivalleiter, dieses Jahr auch architektonische und stadtplanerische Akzente zu setzen.

Odysseus als Archetyp des Flüchtlings

Es diskutierten unter anderen der ehemalige Leiter des Bauhauses Dessau, Omar Akbar, der Kölner Architekt Johannes Kister oder Mikhail Reva, Bildhauer und Architekt aus Odessa, der sich leidenschaftlich für den Erhalt des historischen Erbes einsetzt. Dabei ergaben sich überraschende Verbindungen zum Festival- Thema „Leben am Wasser“, das sich als hochaktuell erwies. So beklagte die indonesische Schriftstellerin Laksmi Pamuntjak das Absterben der Meeresfauna und -flora vor der Küste von Jakarta.

Die Dramatikerin Meriam Bousselmi aus Tunis, derzeit Berliner Daad-Stipendiatin, forderte nachdrücklich das Engagement der Golfstaaten in der Flüchtlingskrise ein. Die Schriftstellerin und Tagesspiegel-Kolumnistin Amanda Michalopoulou aus Athen wiederum erinnerte in Odessa, wo die griechische Befreiungsbewegung im Jahr 1821 ihren Ausgang genommen hatte, an den gestrandeten Odysseus als „Archetyp des Flüchtlings“: „Die Menschen sind geneigt zu sagen: Was für ein heruntergekommener Flüchtling. Aber was für Geschichten hat dieser Mensch zu erzählen, was hat er erlebt? Wenn wir ihm keine Aufnahme gewähren, erfahren wir nie etwas über ihn und seine – vielleicht wunderbaren – Abenteuer.“

Der Krieg ist kurz vergessen

Hierzulande kaum bekannt ist die Tatsache, dass es in der Ukraine selbst rund 2000 Flüchtlinge aus den Konfliktgebieten im Osten gibt. Häufig würden sie als russischsprachige Verräter betrachtet, berichtete der aus Donezk geflohene Schriftsteller Vladimir Rafeenko. Früher hätte es eine solche Betonung des Nationalen nicht gegeben, sagt Jurko Prochasko aus Lemberg, ganz im galizischen Westen des Landes, wo von den Unruhen nur wenig zu spüren sei. Der Germanist, Übersetzer und Psychoanalytiker meint, es sei für das traditionell ethnisch gemischte Odessa ein „riesiger Schock gewesen, zusehen zu müssen, was in den beiden Regionen Donezk und Luhansk läuft. Gerade unter diesem Vorzeichen dieser ideologischen Gleichsetzung vom Russischen als Sprache und Kultur und dem automatischen Schluss daraus, die Region gehöre dann zu Russland.“

Vor den zwölf weißen Säulen der Rathausterrasse von Odessa wiegt sich bei strahlender Herbstsonne eine Gruppe junger Mädchen im Takt der Musik. Sie tragen bestickte weiße Blusen und kunstvolle Zopffrisuren, manche mit blauen und gelben Blumen im Haar, den ukrainischen Nationalfarben. Es ist der Internationale Tag der Bibliotheken und der Übersetzer, außerdem werden Rekruten einberufen, vor allem Matrosen. In ihren Paradeuniformen lassen sie sich von ihren stolzen Familien fotografieren.

Fast vergisst man neben den Ständen mit wolkenhaft aufsteigender Zuckerwatte, dass sich das Land in einem inoffiziellen, nicht erklärten Kriegszustand befindet.

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