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Das Pathos des reinen Vordergrunds. Eurykleia entdeckt die Narbe des heimkehrenden Odysseus. Griechische Vasenmalerei um 440 v. Chr.

© akg-images / Erich Lessing

Literaturwissenschaft: Aus Auerbachs Kellern

Was ist moderner: das Alte Testament oder Homers "Odyssee"? Bei der zweiten Hamburger Begegnung diskutierten Schriftsteller und Kritiker über die Aktualität von Erich Auerbachs weltberühmter Studie "Mimesis".

Von Gregor Dotzauer

Schon zu seinem 100. Geburtstag im November 1992 gehörte er nicht mehr zu den philologischen Pflichtlektüren. Erich Auerbach war ein romanistisches Monument in sicherer Entfernung, als Stilist nach wie vor bewundert für seine klingenden, weit ausgreifenden Satzperioden, in Bezug auf den diagnostischen Gehalt seines berühmtesten Werks „Mimesis – Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur“ aber nur noch bedingt anschlussfähig, wie das im akademischen Jargon heißt. Es hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass diese mit einem Vergleich der homerischen und der alttestamentarischen Erzählweise einsetzende Studie mit einer Lektüre von Virginia Woolfs 1927 erschienenem Roman „Zum Leuchtturm“ endet.

Kein Musil, kein Broch, kein Faulkner, kein Beckett, keine Nathalie Sarraute – alles Autoren, die noch zu seinen Lebzeiten eine Rolle spielten; literarische Welten, die seinen Beobachtungen noch einmal eine neue Wendung hätten geben können, ja müssen. Denn für die schleichende Austreibung der äußeren Wirklichkeit aus dem Erzählen hatte er in seiner Repräsentationsästhetik wenig übrig. Wahrscheinlich ist er auch deshalb in den Literaturtheorien des 20. Jahrhunderts eine Randfigur geblieben. Nur Stephen Greenblatt, die Leitfigur des New Historicism, nennt ihn als entscheidenden Anreger.

Im Jahr 2007, fünfzig Jahre nach seinem Tod in Connecticut, wo der gebürtige Berliner, der 1935 von den Nazis seiner Marburger Professur enthoben worden und im Jahr darauf nach Istanbul geflohen war, zuletzt an der Yale University lehrte, trug ein Symposion deshalb auch den klassikergerechten Titel „Rediscovering Erich Auerbach“. Dabei ist es, ungeachtet der Beständigkeit seines 1946 erstmals erschienenen Buches, das als Reprint mit dringend überholungsbedürftigem Satzspiegel im Francke Verlag bis heute aufgelegt wird, im Wesentlichen geblieben. Die Versuche des Berliner Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Auerbach im hauseigenen jüdischen Kosmos zwischen Aby Warburg und Walter Benjamin fruchtbar zu machen, bleiben ganz in diesem Rahmen.

Was jedoch passiert, wenn sich 27 Schriftsteller und Kritiker unter der Ägide von Sibylle Lewitscharoff, Meike Feßmann und Rainer Moritz zwei Tage lang im Hamburger Literaturhaus zur zweiten Hamburger Begegnung vom ersten Kapitel der „Mimesis“ zu dichterischen und essayistischen Reaktionen anregen lassen? Anders als reine Literaturwissenschaftler suchen sie nicht krampfhaft nach Anschlüssen, wo nur lose Enden herumbaumeln; sie schlagen Funken für die Gegenwart. Auerbachs Entgegensetzung einer Literatur, die entweder in aller handlungsgetriebenen „Vordergründlichkeit“ bis in die kleinsten, fast zur Überinformiertheit zusammengetragenen Details ausgebreitet wird und Mensch und Ding gleichmäßig beleuchtet, wie es in der Heimkehrszene des 19. „Odyssee“-Gesangs geschieht – oder aber, wie in der biblischen Erzählung von Abraham, dem Gott befiehlt, seinen Sohn Isaak zu opfern, von schlichter Wucht und innerer Wahrheit lebt, auf genaue Zeit- und Ortsangaben verzichtet und aufs Dazufantasieren des „Hintergründlichen“ setzt: Dies mögen die Modelle eines „genialen Vereinfachers“ (Ursula Krechel) sein.

Sie behalten ihre Deutungskraft indes noch bei modernen Schlüsselwerken wie James Joyces „Ulysses“, der sich ausdrücklich auf Homer bezieht, obwohl ihm Martin Mosebach stärkere christliche Züge attestierte, oder Franz Kafkas biblisch geprägter Erzählweise im „Prozess“. Vor allem zeigen sie, was akribische, jeden Satz bis in seine einzelnen Gelenke betrachtende Lektüre sein kann.

Zeitgenössischer formuliert, handelt es sich wohl um die Pole von „Zeugenschaft und Imagination“ (Ursula März) – Begriffe, die freilich eine Verabsolutierung zur Alternative nicht erlauben. Denn auch der, der scheinbar nur Zeugnis ablegt, muss das Tatsächliche imaginieren. Der Gegensatz von dokumentarischem und fiktionalem Schreiben ist so künstlich wie der eines äußeren Geschehens und einer spirituellen Wahrheit. Und überhaupt: Man vergleiche dabei, so Durs Grünbein, Äpfel mit Birnen.

Man kann mit Martin Ebel in der homerischen, den Überschuss favorisierenden Variante eine Tradition erkennen, in deren Redundanz und möglicher Trivialität zugleich ihr Wohlfühlfaktor beschlossen liegt. Man kann, mit Clemens J. Setz und Ulrich Peltzer, in ihren Oberflächenexzessen aber auch den Vorschein der postmodern-entropischen Verausgabung sehen, wie sie, auf je unterschiedliche Weise, Thomas Pynchon, William Gaddis und David Foster Wallace betreiben.

Erich Auerbach selbst hätte sich vermutlich von Burkhard Müller und Andreas Isenschmid am besten verstanden gefühlt: als jüdischer Schriftgelehrter mit einer Passion für heilige Texte, der in Istanbul, wo er die „Mimesis“ schrieb, dem Einbruch von Krieg und Shoah zusehen musste. Der Ausgangspunkt seiner Wahrheitssuche war für ihn die Thora – ihr bürgerlicher Gipfelpunkt das erinnerungsdurchflutete Werk von Marcel Proust und dessen „symbolische Jederzeitlichkeit“.

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