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Fiebrige Visionen im Schneetraum: Die Darstellerinnen Linda Pöppel, Manuel Harder und Niklas Wetzel (v. l.) geben die drei eisigen Hexen.

© Arno Declair

Live-Streaming am Deutschen Theater: Die Katastrophe als Kopfnuss

Eine Premiere für das Deutsche Theater: Sebastian Hartmann inszeniert den „Zauberberg“ als einmalige Streaming-Aufführung. Das Experiment ist gelungen.

Thomas Manns „Der Zauberberg“, glaubt Regisseur Sebastian Hartmann, raschele momentan sicher „in allen Dramaturgien Deutschlands“. Schließlich spiele der Roman in einem Sanatorium für Lungenkranke. Was läge da näher für Theatermacher mit aktualitätsgieriger Schnappatmung, als die großen Gegenwartsparallelen zu Covid-19 zu ziehen? Dass er selbst nicht zu den Künstlern zählt, die auf solche Schlüsselreize der Relevanzbehauptung anspringen, daran lässt der spöttelnde Herr Hartmann keinen Zweifel.

Im Videointerview, das anlässlich seiner eigenen „Zauberberg“-Premiere auf der Homepage des Deutschen Theaters veröffentlicht wurde, gibt er als Marschroute durchs „Roman-Panorama“ ein höheres Ziel aus: „Die Metaphysik von Mann szenisch zu hinterfragen.“ Sich also die ganz großen Themen in den Rucksack packen, die einem das Buch durchaus vor die Füße wirft. Welt, Mensch, Leben – was ist das alles?

Schon vor zehn Jahren hat Hartmann in Leipzig einen fünfstündigen „Zauberberg“ inszeniert, damals allerdings noch vergleichsweise interessiert an der Geschichte des Hans Castorp, der seinen Vetter in Davos besuchen will und sich zwischen röchelnden und Blut hustenden Patienten derart verliert, dass aus geplanten drei Wochen Aufenthalt sieben Jahre werden. Bis der Donnerschlag des Ersten Weltkriegs ihn und die übrigen Daseins-Dämmerer wieder aufschreckt. Eine somnambule, dekadente Gesellschaft braucht die Katastrophe als Kopfnuss, um zur Besinnung zu kommen – das ist ja die gängige Lesart des Romans.

Was Hartmann nun am Deutschen Theater vorstellt, weicht davon in jeder Hinsicht ab. Allein schon, weil die Aufführung als Livestream stattfindet, vor leerem Saal, gefilmt von sechs Kameras – und tatsächlich nur einmal in dieser Form zu sehen ist. Sollte im Dezember die analoge Premiere folgen (wovon nicht unbedingt auszugehen ist), wird sie eine andere Gestalt haben. Der Regisseur, sein Team und das Ensemble nutzen den Lockdown, um einen Theaterfilm zu performen, der eigenen Gesetzen folgt. Das Kompositionsprinzip der Inszenierung, erklärt der Dramaturg Claus Caesar im digitalen Bonusmaterial, sei die „Traumlogik“. Präziser wäre: Albtraumlogik.

Unangenehmes Knirschen auf der Tonspur

Der gestreamte Thomas-Mann-Trip beginnt mit Bildern von sich auftürmenden Wellengebirgen (Videoanimation: Tilo Baumgärtel) und einem ziemlich unangenehmen Knirschen auf der Tonspur. Was schon gleich auf die Romanszene verweist, die zur zentralen Inspiration der Hartmann’schen „Zauberberg“-Unternehmung wird: Hans Castorps Schneetraum.

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Die fiebrige Passage, die der Held durchleidet, nachdem er während eines Skiausflugs in lebensbedrohlich wüstes Wetter geraten ist und sich mit ein paar kräftigen Schlucken Portwein zu beruhigen versucht. Da erscheinen ihm unter anderem gruselige halbnackte Frauen mit „hängenden Hexenbrüsten und fingerlangen Zitzen“, die ein Kind fressen. Was nach allgemeiner Deutung eine mit Referenzen nur so gespickte Naturallegorie ist.

In diese Gefilde des Archaischen will Hartmann jedenfalls vorstoßen. Dorthin, wo die Zeit als Haltgeber sich auflöst. Und wo es um das nackte Geworfensein geht. Auch Thomas Mann war wie viele Intellektuelle seiner Epoche für die Relativitätstheorie entflammt. Figuren, Handlungsstränge – das ist hier alles gleich mitverabschiedet. Auf Sebastian Hartmanns schneeweißer, weltrunder Bühne mit aufragender Stahlkonstruktion, die von fern an einen Sextanten erinnert, starten die Schauspielerinnen und Schauspieler mit erkennbarer Verausgabungsbereitschaft in die große Existenz-Exkursion. „Kann man die Zeit erzählen?“, fragt Linda Pöppel programmatisch zu Beginn.

Mehr als eine abgefilmte Theater-Vorstellung

Wie ihre Kollegen Elias Arens, Manuel Harder, Peter René Lüdicke, Markwart Müller-Elmau, Birgit Unterweger, Cordelia Wege und Niklas Wetzel ist sie in einen expressionistischen Bodysuit gesteckt worden. Kostümbildnerin Adriana Braga Peretzki lässt die einen unter Fettwülsten ächzen, die anderen erscheinen abgemagert mit hervorstechenden Rippen. Alle haben sie dicke Schichten weißer Schminke im Gesicht, die zunehmend zerrinnt wie Rudy Giulianis Haarfärbemittel. Traurige Menschendarsteller, die nicht wissen, wohin mit ihrem Körpergepäck – oder sich selbst.

(Die analoge Premiere des „Zauberberg“ ist für den 13. Dezember geplant.)

Sebastian Hartmann kann ein strapaziöser Bedeutungshuberer sein, aber er schafft einen stürmenden Bildersog. In der Live-Video-Regie von Jan Speckenbach (der diese Funktion vor Zeiten bei Frank Castorf an der Volksbühne innehatte) entsteht ein „Zauberberg“ aus Überblendungen und Überbelichtungen, aus Animation und Projektion.

Mal zittern die Bilder wie Patienten in eisiger Höhenluft, mal fährt die Kamera in die Vogelperspektive und zeigt die Spieler auf ihrer endlosen Wanderbühne sich vorwärts tastend wie Kletterer an der Steilwand. Und immer wieder wird in den Zuschauersaal geschwenkt, wo nur ein einsames Regiepult steht; keine Interaktion mit dem Publikum, was Hartmann sonst so schätzt: die Buh- oder Zwischenrufe, das beherzt herausgeschleuderte „Aufhören!“.

Das DT beweist mit dieser digitalen Premiere jedenfalls, dass Livestreaming weit mehr sein kann als nur die abgefilmte Vorstellung. Auch wenn der Youtube-Algorithmus den „Zauberberg“ nach einer Weile mit einer Altersbeschränkung belegt hat, wodurch Zuschauer ohne Account leider nicht mehr weiterschauen konnten, wie die Homepage des Theaters entschuldigend erklärt. Man werde künftig nach Alternativen suchen. Den glücklichen Durchguckern bleibt die Erinnerung an einen starken Abend über die Vergänglichkeit.

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