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Kultur: Ljudmila Petruschewskajas Frauengestalten versuchen, mit einer Gesellschaft ohne Menschlichkeit und Ideale zurechtzukommen

Susanna Nieder D. ist ein spätes Mädchen.

Von Susanna Nieder

Susanna Nieder

D. ist ein spätes Mädchen. In Rußland ist diese Spezies noch anzutreffen: Wer nicht beizeiten heiratet, ist nicht nur dem Mitgefühl der vorwiegend paarweise auftretenden Mitmenschen ausgesetzt, sondern auch der wachsenden Torschlußpanik der Eltern. Wie soll sich eine Tochter ohne Ehepartner jemals selbständig machen? Auch für D. selbst ist das dringendste Anliegen die räumliche Trennung von den Eltern. So ist es ein Segen, daß ihre Tante Ljolja sie als alleinige Erbin ihrer Datscha einsetzt.

Solche Vorgaben sind typisch für die Erzählungen von Ljudmila Petruschewskaja. Der russische Alltag ist das Feld, das sie beackert - scharfsichtig und nüchtern bis zur Erbarmungslosigkeit. Ihre Heldinnen sind fast alle weiblich und somit den Verhältnissen entsprechend von vornherein in einer ausweglosen Situation. Das heißt nicht, daß sie alle als Opfer vorgeführt werden. Manche von ihnen sind tatsächlich verzweifelt, andere verschroben, mißgünstig, eingebildet oder tapfer. Allen gemeinsam ist der Versuch, mit einer Gesellschaft zurechtzukommen, die schon vor dem Sturz der Sowjetordnung für Menschlichkeit und Ideale wenig Raum ließ.

Früher war Ljudmila Petruschewskaja für ihren Zynismus gefürchtet, doch in ihrem neuen Band "Der schwarze Mantel" sind die besonders scharfen Töne auf wenige Erzählungen in den im hinteren Teil zusammengefaßten "Totenliedern" beschränkt. Dort wird etwa aus Tschechows "Dame mit dem Hündchen" unter dem Titel "Die Dame mit den Hündchen" die Momentaufnahme einer Frau, die nichts aus ihrem Leben gemacht und außer dem Tod nichts mehr zu erwarten hat. Oder es wird das Ende von "Bazille" beschrieben, einer Einzelgängerin, die sich so weit an den Rand der Gesellschaft begibt, daß sie irgendwann einfach ins Leere tritt.

Eine Spötterin ist Petruschewskaja geblieben, doch gelegentlich gesteht sie ihren Figuren jetzt eine Entwicklung zum Besseren zu. Nie läßt sie den Alltagstrott auf sich beruhen, sondern skizziert eine Umgebung, um dann ein Fenster aufzustoßen in eine andere Welt. Plötzlich wird eine gesellschaftliche Randerscheinung sichtbar wie in "Höllenmusik", wo einer nichtsahnenden jungen Frau ausgerechnet beim Arbeitseinsatz in der kasachischen Steppe von einer Lesbe der Hof gemacht wird. Oder sie begibt sich in eine imaginierte Welt wie im Fall von D., die in der Datscha ihrer Tante Ljolja den symbolistischen Dichter Aleksander Blok antrifft.

Diese Wendungen ins Mystische oder Märchenhafte passen wunderbar zu Petruschewskajas Nüchternheit; unaufdringlich verweisen sie auf ein Universum jenseits der glanzlosen Realität oder demontieren auf ironische Weise fraglos hingenommene Einstellungen. In "Das Wunder" sucht eine Mutter, die sich für ihren nichtsnutzigen Sohn abrackert, eine Art abgewrackten Christus, der Blinde sehend und Lahme gehend machen kann. Bei dieser Gelegenheit stellt sie fest, daß sie eigentlich nicht Glück für ihren Sohn braucht, sondern endlich Ruhe für sich selbst.Ljudmila Petruschewskaja: Der schwarze Mantel. Erzählungen. Aus dem Russischen von Antje Leetz. Berlin Verlag, Berlin 1999. 246 Seiten, 38 Mark. © 1999

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