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Kultur: Lob der Differenz

Zum Tod des amerikanischen Philosophen John Rawls

Mit dem Erscheinen von „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ auf Englisch 1971 veränderte sich schlagartig die Landschaft der praktischen Philosophie. Ihr Autor, John Rawls, lehrte an der Universität Harvard und ist nun im Alter von 81 Jahren nach längerer Krankheit gestorben. Rawls gilt als der bedeutendste politische Philosoph des 20. Jahrhunderts. Sein philosophisches Interesse galt ausschließlich der Ausarbeitung einer Theorie der Gerechtigkeit für unsere Zeit. Das Ergebnis dieser lebenslangen Bemühungen stellt inzwischen das heutige Koordinatensystem der politischen Philosophie dar: Jede politische Theorie muss sich im Verhältnis zur Rawlschen verorten.

Rawls Theorie führte zunächst zur Wiederbelebung einer normativen politischen Moralphilosophie, die seit langer Zeit eingeschlafen schien. Zusammen mit dem klassischen Ziel der Sicherung friedlichen Zusammenlebens in Freiheit rückte Rawls die Verteilung ökonomischer Güter und sozialer Chancen in den Mittelpunkt. Berühmt ist Rawls Antwort auf das Verteilungsproblem geworden: das sogenannte Differenz- oder Unterschiedsprinzip. Es besagt: Bei Einkommen und Vermögen sind Ungleichheiten nur dann zulässig, wenn sie zum Vorteil der am schlechtesten Gestellten sind. Freiheiten und Chancen hingegen sind strikt gleich zu verteilen. Die Resultate einer freien Marktwirtschaft müssen sozialstaatlich durch Umverteilung korrigiert werden.

Diese Korrekturen sind nach Rawls nötig, weil ein Mehr an Vermögen und Einkommen dann nicht moralisch verdient ist, wenn es entweder durch soziale Umstände bedingt ist oder auf natürlichen Anlagen wie Intelligenz, Talent und Leistungsvermögen beruht. Andererseits spricht gegen ein solches staatssozialistisches Wirtschaftsmodell, dass es durch mangelnde Effizienz die Interessen der am wenigsten Begünstigten schlechter als in einer sozialen Marktwirtschaft berücksichtigen würde.

Rawls beeindruckte auch mit seiner Reaktion auf die das ganze 20. Jahrhundert überschattende moralische Malaise. Die moderne Schwierigkeit besteht darin, dass wir alle an die Ideale der Aufklärung glauben, uns aber die Hoffnung, diese Ideale aus der Vernunft allein zu verwirklichen, ohne Zuhilfenahme von Metaphysik und Tradition, abhanden gekommen ist.

Wie Rawls in seinem zweiten Buch „Politischer Liberalismus“ von 1993 darlegt, bedarf es heutzutage einer rein „politischen“ Gerechtigkeitskonzeption, die weder in metaphysischen Werten wurzelt noch auf einer bestimmten Anschauung über das, was das Leben wertvoll macht, basiert. Die sozialen Erfahrungen der Neuzeit zeigen jedoch, dass ein geregeltes Zusammenleben auf moralischer Grundlage auch ohne eine gemeinsame ethische, religiöse oder philosophische Weltanschauung möglich ist. Die eigentliche Aufgabe politischer Philosophie innerhalb einer demokratischen Gesellschaft besteht demnach darin, die tieferen Grundlagen einer möglichen Übereinstimmung, von denen Rawls hofft, dass sie in einem „übergreifenden Konsenses“ des Common Sense eingebettet sind, aufzudecken und mit seiner Gerechtigkeitskonzeption sozusagen auf den Begriff zu bringen.

Stefan Gosepath

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