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Kultur: Lobet den Lord!

Mein Tag für Wunder: ein Erweckungserlebnis in der Kirche am Südstern / Von Maike Wetzel

„Alles blüht und alles rast.

Heilande werden gesucht.“

(Alfred Kerr: Aus dem Tagebuch eines Berliners, um 1899)

Vor meinem Fenster lauern Vampire. Lachen Sie nicht! Sie sind riesig groß, fast neunzig Meter hoch, mit rot glühenden Augen. Ihr Mund hat ein goldenes Ziffernblatt, die Nase die Größe und Form eines gotischen Kirchendachs.

Vor Sonnenuntergang ist noch alles erträglich. Da ragt vor meinem Fenster ein schwarzer Glockenturm empor, verrußt vom ständig um ihn fließenden Verkehr der Gneisenaustraße, die am Südstern zur Hasenheide wird. Hier, wo Kreuzberg 61 endet und Neukölln beginnt, spähen bereits tagsüber Lemuren und Drudenvögel mit steinernen Schnäbeln vom Dach der Kirche auf die Menschen herab. Bereit, sich jederzeit auf sie zu stürzen. Doch die kleinen Monster sind fest gemauert. Das habe ich schon bemerkt. Sie schrecken mich nicht, ich zittere vor dem Abend.

In einem alten kunstgeschichtlichen Führer las ich, die ehemalige Garnisonskirche am Südstern sei eine „Nachtschönheit“. Ich lachte hohl. Der Autor sprach von den Wänden aus hellem Sandstein, der bei Tage unvorteilhaft wirke. Davon kann heute nicht mehr die Rede sein. Kerosin, Benzin und Kohleöfen schminkten der Kirche ein neues, dunkles Gesicht. Sobald die Sonne untergeht, glühen die Augen der Vampire – die roten Signale, die den Turm vor nächtlichen Irrfliegern bewahren sollen. Der Flughafen Tempelhof ist gleich nebenan.

Selbst mein kubanischer Nachbar fürchtet die Kirche. Dabei liegt seine Bar direkt daneben, noch näher an Graf Dracula. Es gibt Gebäude, die einen unversehens schneller fahren lassen, schnell vorbei, das sind Geisterhäuser, sagt er. Die Südstern-Kirche gehört für ihn dazu. Doch er war es auch, der mir den Exorzismus empfahl. Er sagte, ich solle Sonntagnachmittag in die Kirche gehen. Und das tat ich dann auch.

Ich trug Pelz, Minirock und Netzstrumpfhosen, und als die schwere Tür hinter mir zufiel, schwante mir, dass das vielleicht nicht das klügste Outfit war. Der Mann, der durch die Reihen mit etwa hundert Gläubigen auf uns zueilte, um mich und meinen Begleiter zu begrüßen, gab mir zwar die Hand, schaute aber betont an mir vorbei. „Praise the Lord!“ Meine Rocklänge war wohl etwas ungehörig. Die anwesenden Frauen trugen meist einfarbige, kniebedeckende Kostüme oder aber lange, bunte afrikanische Gewänder.

Schamvoll, wegen unserer Verspätung, schlüpften wir in eine der hinteren, leeren Reihen. Vor uns stand die männliche Streetwear-Fraktion, mit Militärhose und Haarnetz auf den Rastalocken. Der Gottesdienst war schon in vollem Gange. Trotzdem herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, Kinder liefen durch die Gänge, Frauen gingen auf die Toilette, ganze Familien verließen die Messe, andere kamen, der junge Mann vor uns nahm einen Handyanruf entgegen. Vor dem Altar standen Keyboard, Schlagzeug sowie ein Trompeter und intonierten, begleitet vom Gesang der ganzen Gemeinde, „Amazing grace“, eines der rührendsten Lieder überhaupt. Die Augen der Gläubigen waren starr vor Ergriffenheit. Eine Frau winkte mit einem weißen Taschentuch, einige Christen erhoben die Hände gen Himmel, ein paar riefen spontan Unverständliches in das Rund der Kirchenkuppel. Ich schluckte, vor Bedauern, nicht mitsingen zu können. In Sachen Musik bin ich Trockenschwimmerin. Ich liebe Gesang, aber ich bringe keinen geraden Ton heraus. Nur zum Härtetest kommt meine Stimme zum Einsatz: Wenn ein Mann mich singen lässt, mir länger lauscht als drei Minuten, dann weiß ich, dass er mich liebt.

Vor mir schwangen die Hüften der Gläubigen, nur ich stand hoffnungslos steif hinter der tanzenden Menge. Ein kleiner schwarzer Junge kam auf mich zu und gab mir die Hand. Dankbar ergriff ich sie. Er wendete sie ernst ein paar Mal hin und her.

Der letzte Klang des Liedes verhallte noch im Kirchenschiff, da fing der Pfarrer bereits an zu predigen. Das Keyboard spielte weiter sphärische Klänge, der Reverend tänzelte mit dem Mikrofon in der Hand vor den Gläubigen und skandierte in schnellem, gepressten Englisch mit afrikanischem Einschlag. Jeder müsse sich an die Gesetze halten, war die erste Botschaft. Ob wir von Daniel-in-der-Löwengrube Küblböck gehört hätten? Der habe sich nicht die Zeit genommen, den Führerschein zu machen und wir alle wüssten ja, in welchen Laster ihn das geführt habe... „Äy, Män!“ rief der junge Mann mit den Rastalocken vor mir und klatschte in die Hände. Ich wartete darauf, dass sein Freund einschlug, dann verstand ich: Sonntagnachmittags klingt das Amen in der Kirche am Südstern wie ein HipHop-Gruß.

Der Pfarrer griff zur Bibel, unser Rasta-Vordermann zog seine deutsche Ausgabe aus einem alten Schulmäppchen. Auf der Leinwand über dem Altar wanderte ein Mauszeiger zu einem geöffneten Fenster mit allen Büchern des Neuen Testaments und klickte „Offenbarung“.

Das predigende Zwiegespräch ging zwanglos in das nächste Lied über, „Today is my miracle day“. Der Pfarrer stimmte es allein an. Und tatsächlich, ein Wunder: Der Gospelpriester konnte nicht singen. Seine Stimme quietschte, er traf die Tonhöhe nicht. Ich lauschte entzückt. Einen Moment lang überlegte ich, dann stand ich auf und sang. Ich sang nicht schön, aber auch nicht leise. Es war ein befreiendes Gefühl. Selbst meine Hüfte schwang auf einmal automatisch. Mein Begleiter musterte mich überrascht, protestierte jedoch nicht. Er lauschte meinem Quäken länger als drei Minuten, er bestand den Härtetest.

Seitdem lächle ich, wenn die Kirche am Südstern wieder mit ihren Vampiraugen droht und ich summe, ausdauernd und falsch: Heute ist mein Tag für Wunder.

Maike Wetzel, geb. 1974, lebt als freie Schriftstellerin in Berlin. Zuletzt erschien von ihr der Erzählband „Lange Tage“ im S. Fischer Verlag.

Gottesdienst der „Gospel Believers International Ministries e.V.“ jeden Sonntag um 14 Uhr in der Kirche am Südstern, Telefon: 7526116

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