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Kultur: Loleks Enkel

Polen war oft katholischer als der Papst. Die neue Generation hat ein eher pragmatisches Verhältnis zum Glauben. Ein Ortstermin in Danzig

Der Leib Christi ist in graue Plastikfolie gehüllt und mit breiten Klebestreifen an ein riesiges, fast zehn Meter langes Holzkreuz geheftet. Das Holzkreuz wiederum ruht auf den Schultern von etwa 20 jungen Männern, die es langsam von einer Danziger Backsteinkirche in die andere tragen. Zwischen der Dreifaltigkeitskirche am Rande des Zentrums, wo das Kruzifix seit dem Zweiten Weltkrieg aufbewahrt wurde, und der Johanneskirche in der Altstadt, wo es eigentlich hingehört, liegen 20 Minuten Fußweg. Die jungen Männer brauchen eine halbe Stunde. Sie gehen sehr langsam. Ihre Gesichter sind ernst, was aber auch an der lausigen Kälte liegen kann. Anfang April knirscht in Danzig noch immer feiner Schneestaub unter den Schuhen. Die Plane, in die das Kruzifix gehüllt ist, knattert im Ostseewind. Ansonsten ist nichts zu hören. Keiner betet, keiner singt, nicht einmal ein Weihrauchfass scheppert. Krzysztof Niedaltowski, der Priester, der die Prozession anführt, hat nur einen Ölzweig dabei. Damit regelt er auf der Podwale Przedmiejskie, einer mehrspurigen Straße, den Verkehr.

Was ist das? Ein Schweigemarsch, ein Kreuzzug oder doch bloß Ironie? Eine alte Frau, die in einem prächtigen grünen Patrizierhaus die Fenster putzt, als das Kruzifix in der Altstadt ankommt, bekreuzigt sich für alle Fälle. Ein junger Mann, der sich in der Bäckerei im Erdgeschoss ein Teilchen gekauft hat, lacht. Hier werde doch gar nicht der Leib Christi, sondern ein Leib Christos durch die Straßen getragen, sagt er. „Schauen Sie sich nur die Verpackung an.“ Hochwürden Niedaltowski gefällt der Vergleich, obwohl er „natürlich völliger Unfug“ sei. Mit rein ästhetischen Spektakeln, wie Christo und Jeanne Claude sie inszenieren, habe er nichts im Sinn. „Ich suche neue Formen für alte religiöse Inhalte.“

Niedaltowski, muss man wissen, ist der Seelsorger der Danziger Künstler. Er trägt die Soutane nur am Sonntag, unter der Woche sieht man ihn in dunklen Jeans und Pullover. Seine Johanneskirche ist ein Magnet für junge Christen, die es nicht ganz so dogmatisch mögen. Es finden regelmäßig Ausstellungen und Konzerte statt, aber eben auch Happenings und Spektakel. Letzten Juni hat die Gemeinde die Johannespassion als karnevalesken Gruselschocker mit Judith und König Holofernes inszeniert, und jetzt also die Überführung des Kruzifixes aus dem 15. Jahrhundert als Schweigeparade. Niedaltowski hofft, dass für die Menschen „spirituell etwas dabei rübergekommen“ ist. Kunst, egal wie tumultuarisch sie sich gebe, sei ja immer eine Form der Auseinandersetzung, und polnische Kunst setze sich mit dem Transzendentalen auseinander. Meistens jedenfalls. „Wir haben, wie Sie wissen, ja ein engeres Verhältnis zur Spiritualität.“

Niedaltowski macht eine Pause, als warte er auf Widerspruch. Er weiß, dass die polnische Spiritualität im Ausland oft befremdlich wirkt. Er hat, selbst bei deutschen und belgischen Kollegen, das Gefühl, „die denken, man komme direkt aus dem Mittelalter“. Aber wer so rede, werde dieses Land nie begreifen. Man müsse an die Geschichte der polnischen Teilungen denken, als der Katholizismus eine Waffe gegen die orthodoxen Russen und die protestantischen Preußen war, an den Kommunismus und, Niedaltowski senkt den Blick, natürlich an den Papst. Dieser Papst, der gestern in Rom begraben wurde, ist in Polen mehr als ein Glaubensführer. Er ist ein Superstar. Als er 1979, ein Jahr bevor in Danzig die großen Solidarnosc-Streiks ausbrachen, bei seinem ersten Polenbesuch in Krakau sagte: Seid stark und fürchtet euch nicht!, war das keine rein religiöse Botschaft. Niedaltowski sagt, es schlug ein „wie eine Bombe“. Doch 15 Jahre nach der Wende gibt es die Polen, die sich kollektiv in der katholischen Kirche gegen General Jaruzelski und seine KP organisierten, nicht mehr.

Zwar bezeichnen sich heute über 90 Prozent aller Polen als katholisch, aber der polnische Katholizismus ist mittlerweile so vielfältig wie die Gesellschaft. Junge Katholiken denken anders als alte, Städter anders als Dörfler. Und Südostpolen ist sowieso ein Thema für sich. Die antisemitischen Radikalkatholiken um den Toruner Sender „Radio Marija“ halten mittlerweile selbst den kreuzkonservativen Lech Walesa für einen Vaterlandsverräter, während aus Sicht der „Liga der polnischen Familien“ die Agitation von „Radio Marija“ noch immer zu liberal ist. Es gibt aber auch solche, die vor allem deshalb gerne in Niedaltowskis Johanneskirche gehen, weil dort Cesare Paciorek, ein bekannter Jazzpianist, Akkordeon statt Orgel spielt. Und die, die abends lieber lange feiern, als morgens die Heilige Messe zu besuchen, werden auch immer mehr. Sebastian Lupak, ein junger Gesellschaftsreporter der angesehenen „Gazeta Wyborcza“ zum Beispiel, war bei der Taufe seines einjährigen Sohnes zum letzten Mal in der Kirche. Wenn er um den Papst trauert, trauert er nicht so sehr um den polnischen Stellvertreter Gottes als um den bekanntesten Polen der Welt. „Die Deutschen haben Mercedes, die Franzosen ihre Küche, die Briten das Königshaus, und wir hatten eben den Papst.“

„Es gab in der Nachwendezeit ja auch wenig Idole“, sagt Karolina Quellner, die Chefin der Absinth-Bar, die Lupak gerade ein Bier zapft. Karolina ist Anfang 30, eine schöne Frau mit blonden Haaren und einem altmodischen, fast madonnenhaften Gesicht. Mit ihrem Mann, einem Amerikaner, hat sie Mitte der 90er Jahre lange in San Francisco gelebt. Seitdem sie zurück sind, schliddert Polen von einer Regierungskrise in die nächste. Die Popularität der Postsozialisten, die vor vier Jahren das Solidarnosc-Bündnis AWS abgelöst haben, geht gegen Null. Die Wirtschaft boomt zwar wieder, die Preise steigen, aber die Erwerbslosigkeit sinkt nicht, und wer heute keine Arbeit hat, kann davon ausgehen, dass er so schnell auch keine mehr findet.

Die Danziger Werft, wo 1980 alles begann, ist heute nur noch eine Industrieruine. Die riesigen Betonanker, die vor dem Haupteingang zur Erinnerung an die vielen Opfer der Solidarnosc-Bewegung in den Himmel wachsen, wirken irgendwie fehl am Platze. Von ehemals 16 000 Arbeitern sind nur gut 2000 geblieben. Letztes Jahr, vor dem EU-Beitritt Polens haben sie die neuen Fahnenstangen für das Parlament in Strassburg geschmiedet, seither sind die meisten auf Kurzarbeit. Es gibt nicht mehr viel zu tun auf der ehemaligen Leninwerft, Schiffe kauft man heute in China günstiger als in Polen. Ein Teil des Geländes hat die Entwicklungsgesellschaft „Synergia 99“ gekauft, um den historischen Ort zu einer luxuriösen Wasserstadt auszubauen. Für die Zwischenzeit wurde es an Künstler verpachtet, die in den alten Montagehallen Lofts und Ateliers eingerichtet haben. Lupak hat gehört, dass dort dieser Tage ein schwul-lesbisches Festival stattfindet, das erste, das es in Danzig je gegeben hat.

Karolina schiebt ihm sein Bier über den giftgrün schillernden Tresen. Darüber wölbt sich eine Betonwelle dramatisch in den Raum. An ihrer Krempe hängen kleine rote Lampions, wie man sie aus dem China-Imbiss kennt. Die Rückwand des Lokals ist aus Glas, man schaut direkt in das grell beleuchtete Foyer des Danziger Theaters. Karolina und ihr Mann haben die „Absinth“-Bar vor anderthalb Jahren eröffnet, als der starke Anisschnaps, der, in zu großen Mengen genossen, irre macht, in Polen noch verboten war. Im Januar 2004 wurde er legalisiert, und seit Absinth in Polen nun ein Trendgetränk ist, ist das „Absinth“ ein Trendlokal. Hier trifft sich die lokale Kulturbohème. Theaterleute, Autoren, Lebenskünstler. Man kennt sich, begrüßt einander mit Küsschen. Der Umgangston ist lässig, wenn die Feministin Asia Cielecka da ist, wird er auch schon mal schrill. Sie gehört zu den Leuten, die um sich herum sofort Hektik verbreiten, sie spricht erregt und weiß nie, welches ihr Glas ist.

„Über die katholische Kirche willst du reden?“ Asia fährt sich mit der Hand durch ihren hübschen blonden Bubikopf. Schwieriges Thema. Als Polin könne man gar nicht anders als katholisch sein. Sie glaube an Gott, „aber ich hadere auch“. Sehr sogar. Sie hat letztes Jahr das ganze Land bereist, um das Thema häusliche Gewalt zu diskutieren. 20 bis 40 Prozent der Frauen würden in der Ehe vergewaltigt, sage die Statistik. „Doch was machen die? Sie gehen beichten.“

Es sei skandalös. Ärzte weigerten sich, Ultraschalluntersuchungen bei Schwangeren zu unternehmen, weil sie im Fall einer medizinischen Indikation, also wenn die Schwangerschaft das Leben der Mutter gefährdet, einen Abbruch vornehmen müssten. Schwule und Lesben gälten immer noch als krank. Dass in der alten Werft jetzt dieses Festival stattfinden könne, sei schon eine Errungenschaft. „Die soziale Kontrolle ist hier fast so effektiv wie im Iran“, sagt Asia. „Nur auf dem Land“, sagt Karolina. Sie lächelt. Damals in San Francisco wurde auch so über Polen geredet. Sie hat das damals sehr verletzt, weil es eben nur die halbe Wahrheit war. Auch in Polen ist in den letzten Jahren eine „Generation X“ herangewachsen, die sich um die Glaubensweisheiten der Alten wenig schert. Der Punkrocker Kuba Wandachowicz hat sie vor drei Jahren in einem Essay als „Generation Nichts“ beschimpft, die außer schnellem Geld und schnellem Sex nichts im Kopf habe. Das war, wie jede Generationenschelte, natürlich maßlos übertrieben. Die wenigsten sind so kämpferisch wie Asia, die meisten scheren sich einfach nicht um die Regeln der Alten.

„Die sind mir zu bigott“, sagt Karolina. Lehnen die Abtreibung ab, sind aber seit neuestem wieder für die Todesstrafe, sagen, man müsse den Sonntag heiligen und gehen nach der Messe in den nächsten Supermarkt. Den Papst nimmt sie aus. Johannes Paul II. sei in seinem Konservatismus wenigstens konsequent gewesen. Er habe nicht nur die Abtreibung, sondern auch die Todesstrafe abgelehnt. Außerdem, sie öffnet eine Flasche Wasser, habe er ein Christentum repräsentiert, dass sich um einen Ausgleich mit der Gegenwart zumindest bemühte.

Als die polnischen Rechtspopulisten um den Bauernführer Andrzej Lepper im Bunde mit vielen polnischen Geistlichen vor zwei Jahren eine Anti-Europa-Kampagne starteten, war es der Papst, der sie zur Raison rief. Und jetzt, sagt Karolina, sei das Land mit seinen Politikern allein. „Ich fürchte mich ein bisschen.“ Dass der Katholizismus wieder eine politische Waffe werden könnte, die sich nun gegen die Freiheiten richtet, die die katholische Solidarnosc-Bewegung erkämpft hat. Diesen Sommer wird in Polen eine neue Regierung gewählt, und es sieht so aus, als hätten die radikalen Katholiken gute Chancen, die Postsozialisten abzulösen. Die „Liga der Polnischen Familien“ und Andrzej Leppers „Bauernpartei“ versprechen den Menschen, Ehe, Familie und das ungeborenen Leben zu schützen, den Kapitalismus zu bremsen und den Wohlstand gleichmäßig über alle Menschen zu verteilen, die es wert sind. „Sie sprechen von Werten, aber sie meinen Ordnung“, sagt der Journalist Sebastian Lupak. Aber sie verstünden nicht, dass der Kapitalismus längst eine Dynamik entwickelt hat, der man mit rigiden Glaubenssätzen nicht beikommt. Das habe viele Nachteile. Aber eben auch Vorteile.

Es ist schon stockfinster, als die Feministin Asia endlich bei der Werft ankommt. Der Pförtner notiert am Eingang jeden Namen, damit auf dem riesigen Areal niemand verloren geht. Zwischen den einzelnen Baracken sammelt sich das Tauwasser in kleinen Pfützen. In einer ehemaligen Montagehalle wummert ein monotoner Beat. Davor stehen zwei Transvestiten mit Perücken und hochhackigen Schuhen. Einer hat sein T-Shirt an den Brüsten aufgeschnitten und die Warzen mit Lippenstift nachgemalt. Den Eintritt kassieren kurzhaarige Frauen, die aussehen, als wären sie Rainer Werner Fassbinders Schwulen-Epos „Querelle“ entsprungen. Wer sich mit seinem Outfit nicht am allgemeinen Karneval der Geschlechter beteiligt, muss mehr zahlen. Auch Asia, die einfach nur ihren dunklen Anzug angezogen hat. Sie ist mit ihrem alten Freund Darek gekommen, der in London als Barkeeper arbeitet und nur für das Wochenende in Polen ist. Er will sehen, „what’s hot in Gdansk“.

Auf der Leinwand, die die ganze Innenseite einer ehemaligen Montagehalle einnimmt, laufen Videos aus der transsexuellen Off-Kultur der Vereinigten Staaten: Masturbationsszenen in Großaufnahme, Innenansichten aus einer Sado-Maso-Folterkammer, Blut tropft, Sperma fließt. Asia ist die erste, die fassungslos den Raum verlässt. Es ist ihr zu heftig. Darek läuft ihr hinterher. Er hatte gehofft, hier ein paar neue polnische Independent-Bands zu hören. Theorie-Porno sei nicht so seine Sache. Er zieht den Reißverschluss seines Anoraks zu, Asia nestelt in ihrer Tasche nach einer Zigarette. Hinter ihrem Rücken, an dem Eisentor zum Haupteingang der Werft, hängt seit über 20 Jahren das gleiche Bild von Johannes Paul II. Es zeigt einen rüstigen Mann, der noch das runde Gesicht hat, wegen dem die Leute ihn in seiner Jugend „Lolek“, Lutscher nannten. Ob er gutheißen würde, was sich hinter den Toren der Werft gerade abspielt? Darek lächelt. Das sei die falsche Frage, findet er. „Ihm haben wir zu verdanken, dass wir heute machen können, was wir wollen.“ Wenn Leute damit Schwierigkeiten hätten, sei das deren Problem. „Ich freue mich immer noch darüber.“

Darek fasst sich ans Herz, was dann aber doch ein bisschen zu theatralisch wirkt. Dann zieht er sich eine bunte Skilehrermütze über den kahlen Kopf und verschwindet mit dem nächsten Taxi. Er will noch mal in die Stadt zurück, irgendwo muss es doch Musik geben, die ihm gefällt. Asia zieht an ihrer Zigarette, die vom Regen schon ganz nass ist. Sie überlegt, ob sie noch einmal zurück auf das Festival gehen soll, obwohl es sie wirklich Überwindung kosten würde. Aber es sei sehr wichtig für Polen, die polnische Frauenbewegung und den weiblichen Sex, dass solche Filme endlich gezeigt würden. Hier hätten ja nicht einmal die Feministinnen Judith Butlers Buch „Gendertrouble“ gelesen. „Wir sind so hinten dran.“ Und auch über „die Zwangsheterosexualität der katholischen Gesellschaft“ müsse gesprochen werden, sagt Asia. Aber es klingt verzagter als gestern Abend im Absinth, fast so, als hätte sie gegenüber dem polnischen Papst jetzt doch ein schlechtes Gewissen. Aber da muss sie jetzt durch.

Stefanie Flamm

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