zum Hauptinhalt
Verzweiflung macht sich breit bei den Darstellerinnen von "Lost".

© Matthias Heyde

"Lost" an der Neuköllner Oper: Auf den Schultern der Geschichte

Mit „Lost (1,5 m)“ zeigen Cordula Däuper, Johannes Müller und Tobias Schwencke an der Neuköllner Oper, wie ernst die Lage ist.

Harte Zeiten: Im Harz verdorren die Bäume und werden Beute des Borkenkäfers, ganze Landschaften entwalden, und wer wochenlangen blauen Himmel noch als „schönes Wetter“ empfindet, hat nichts verstanden. Demokratien wählen ihre Verächter an die Macht, autoritäre Regime sind bald der Normalfall, soziale Medien eigentlich asoziale – und über das Virus brauchen wir erst gar nicht reden, oder?

Die Welt, sie ist aus den Fugen. Eine Untergangsstimmung, die das Trio Tobias Schwencke (musikalische Leitung), Cordula Däuper (Regie) und Johannes Müller (Text) jetzt an der Neuköllner Oper mit „Lost (1,5 m)“ für die Bühne fruchtbar machen will – auch, um das coronabedingt schüttere Publikum wachzurütteln.

Es darf sich mutmaßlich in den fünf Damen wiedererkennen, die da auf dem Podium hantieren, das Sektglas noch in der Hand, ihr größtes Problem: kein Netz. Sie sind weitgehend im Reinen mit sich, klar: Fliegen ist nicht so cool, „aber ich liebe doch Mauritius!“ Erst viel später, da ist der Abend schon fast vorbei, wird eine entsetzt resümieren: „Warum hat uns niemand gesagt, wie ernst es ist?“

Die Musik wird zur sechsten Hauptfigur

Es sind Schlaglichter, Short Cuts, immer wieder unterbrochen von Dunkelheit und einem seltsamen, elektrostatischen Wummern, bedrohlich. Der Boden, auf dem Karla Sengteller, Fernanda Farah, Nadja Petri, Olivia Stahn und Cathrin Romeis herumstapfen, ist knöchelhoch mit etwas Undefinierbarem bestreut: schwankender Grund.

Als sechste Hauptfigur gesellt sich die Musik hinzu, Warnerin Erda etwa aus „Rheingold“, vor allem aber Lieder aus Schuberts letztem Zyklus „Schwanengesang“, arrangiert und teilweise kunstvoll verfremdet von Tobias Schwencke, der selbst am Flügel sitzt.

Die Rolle, die diese Lieder spielen, ist nicht ganz klar: Sollen sie das unbeschädigte Gegenbild zu den Dystopien sein, die sich auf dem Podium immer mehr breitmachen? Wenn ja, dann wäre es nicht fair, dann würde Schuberts Musik eine Naivität unterstellt, die diese gar nicht hat.

Die Atmosphäre ist apokalyptisch

Trotzdem: Der Abend funktioniert, weil er eine Ästhetik entwickelt und diese recht konsequent beibehält, weil er es schafft, mit minimalen Mitteln eine apokalyptische Atmosphäre zu evozieren. Bei der er übrigens nicht stehenbleibt. Das Programmheft will auch Optimismus injizieren, konkrete Auswege aus der Klimakatastrophe weisen. Am meisten CO2 spart man, steht da, mit einem Kind weniger (58,6 Tonnen jährlich), an zweiter Stelle: autofrei leben (2,4 Tonnen), gefolgt von Flugreisen vermeiden (1,6 Tonnen pro Flug) und sich pflanzlich ernähren. Corona spielt, vom Titel abgesehen, eine erstaunlich kleine Rolle.

Vor dem Abrutschen ins Plakative ist „Lost“ nicht gefeit, wenn eine Darstellerin mit wasserstoffblonder Perücke von „our beautiful crystal clear water“ säuselt und eine andere die Greta mit den Zöpfen gibt. Doch dann erklingt Musik, letzte Takte aus „Götterdämmerung“, und der Abend ruckelt sich wieder ins Stimmige zurecht. Auch mit Sätzen wie diesen: „Wir standen wie Götter auf den Schultern der Geschichte und starrten auf die Bildschirme in unseren Händen.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false