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Loveparade-Unglück: Die Masse am eigenen Leib

Loveparade, Public Viewing, Pilgerfahrten: Die Menschen suchen immer wieder das gefährliche Erlebnis der Masse.

Von Jörg Wunder

Die Katastrophe schien sich bisher meist weit entfernt zu ereignen. Tragische Beispiele für eine Massenpanik mit Todesopfern hat es in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder gegeben. Nur war es stets irgendwo anders. Wenn bei der Hadsch im saudi-arabischen Mekka oder im Zuge religiöser Zeremonien an hinduistischen Heiligtümern unter Millionen von Pilgern immer wieder Dutzende oder gar Hunderte zu Tode kamen, ja selbst wenn in einer grausigen, das jetzige Desaster von Duisburg vorwegnehmenden Analogie vor fast genau 20 Jahren in Mekka bei einer Massenpanik in einem Fußgängertunnel 1426 Menschen starben, konnte man dies notfalls mit dem aufrichtig schockierten, aber doch beruhigenden Grundgefühl verarbeiten, dass die Verhältnisse an den Unglücksorten eben andere waren als bei uns.

Wer hätte geglaubt, dass etwas Vergleichbares auch im Musterland organisierter Großveranstaltungen stattfinden könnte? Schließlich war bislang alles unter Kontrolle: Konzerte oder Sportveranstaltungen mit Zehntausenden, die Public-Viewing-Fanmeilen zur Fußball-WM mit Hunderttausenden von Besuchern. Schließlich, als Höhepunkt kollektiver Massenverdichtung, die Loveparade. In Berlin fand sie zuletzt 2006 statt mit geschätzt einer Million, in den beiden Folgejahren in Essen und Dortmund mit schier unfassbaren 1,4 beziehungsweise 1,6 Millionen Teilnehmern. Das Ganze in Städten, deren gesamte Einwohnerschaft etwa ein Drittel davon umfasst und deren Infrastruktur schwerlich auf eine Invasion von anderthalb Millionen Ravern ausgelegt ist.

Und doch war alles gut gegangen, auch wenn sich viele Teilnehmer in Internetforen schon vor zwei Jahren über die drangvolle Enge während der Dortmunder Parade beklagten, als die Veranstalter den Techno-Umzug auf einen Teilbereich der Innenstadt begrenzt haben. Die Bochumer Stadtverwaltung kapitulierte im vorigen Jahr gleich vor der zu erwartenden Überlastung und ließ die Veranstaltung absagen – rückblickend betrachtet eine weise Entscheidung.

Die Tragödie von Duisburg wird die Frage aufwerfen, ob das bisherige Ausbleiben vergleichbarer Katastrophen in Deutschland tatsächlich dem hohen – und in Duisburg offenbar nicht bis zu Ende durchdachten – Perfektionsgrad der Organisation solcher Massenveranstaltungen geschuldet war. Oder ob es bis zu einem gewissen Grad nicht auch reines Glück war, von großen Unglücksfällen verschont geblieben zu sein.

Denn letztlich ist das Gefühl der Sicherheit, das einem die meist demonstrativ ausgestellte Organisation von Großereignissen vermittelt, trügerisch. Wer einmal in einem handelsüblichen Rockkonzert die wellenartig potenzierten Schwarmbewegungen ungestümer Besucher am eigenen Leib gespürt hat, bekommt eine Ahnung von der immensen kinetischen Energie einer in unkontrollierte Dynamik versetzten Masse. Perfiderweise führt die für das Individuum nicht mehr erfassbare Gesamtperspektive dazu, dass die, die hinten drängeln und schieben, gar nicht mitbekommen, wie vorn Menschen zusammengequetscht oder an Absperrgitter gedrückt werden. Somit sind die Auslöser dieser meist nur unangenehmen, manchmal aber auch bedrohlichen Situationen in der Regel ahnungslos – was nicht gerade hilfreich ist, ein Bewusstsein für die Fragilität der Situation zu schaffen.

Meistens bleibt es ja bei ein paar blauen Flecken. Aber eben nicht immer. Und Dramen passierten auch vor Duisburg nicht nur in Ländern mit gefühlt oder tatsächlich unterentwickelten Sicherheitsstandards: Kürzlich erinnerte die US-Band Pearl Jam bei ihrem Berlinkonzert an die Ereignisse während des Open-Air-Festivals im dänischen Roskilde vor genau zehn Jahren, als im Verlauf ihres Auftritts neun Besucher zu Tode gequetscht wurden. Dort reichten ein vom Regen rutschiger Untergrund und die ungebremst in den überfüllten Bereich vor der Bühne strömenden Fanmassen, um die Katastrophe auszulösen.

Ein Jahr zuvor brauchte es nach einem Rockkonzert in der weißrussischen Hauptstadt Minsk nur ein heftiges Gewitter, um bei den vom Veranstaltungsort strömenden Besuchern – es waren „nur“ um die 10 000 – die Massenflucht in eine nahe gelegene U-Bahn-Station zu provozieren. 54 Menschen erstickten qualvoll oder wurden totgetrampelt.

Gerade einen Monat ist es her, dass in der Nähe von Barcelona zwölf junge Menschen getötet wurden, als sie beim Überqueren der Gleise von einem Schnellzug erfasst wurden. Sie wollten zu einer nächtlichen Raver-Party am Strand, dessen Zugang durch einen Tunnel von den Behörden gesperrt worden war.

Tatsächlich wurden und werden aus den Tragödien Lehren gezogen. Die großen europäischen Fußballkatastrophen der Achtziger im Brüsseler Heysel-Stadion, im Moskauer Luschniki-Stadion und im Hillsborough-Stadion von Sheffield führten sukzessive zu einem völligen Umbau der Arenen, die mit verbesserten Zugangs- und Fluchtwegekonzepten, sogenannten Wellenbrechern innerhalb der Zuschauerränge, getrennten Blöcken für die Fangruppen der Gäste- und Heimmannschaften und einer komplexen Sicherheitslogistik optimiert wurden. Auch auf dem Konzertgelände in Roskilde wurden nach dem Unglück zahlreiche Umbauten vorgenommen, um die bis zu 90 000 Festivalbesucher in geordnete Bahnen zu lenken.

Ungeachtet der Aufklärung der Duisburger Ereignisse, die offenbar von einer verantwortungslosen Wird-schon-gut-gehen-Mentalität der Veranstalter begünstigt wurden, wird man sich grundsätzliche Gedanken über die Organisation und Durchführung von Großveranstaltungen machen müssen. Selbst wenn, wovon viele Beobachter der Szene ausgehen, die Loveparade in ihrer jetzigen Form nicht mehr stattfinden sollte, wird etwas an ihre Stelle treten.

Denn die stetig wachsende Wertschätzung des kollektiven Erlebnisses ist schon länger eines der konstituierenden Elemente der Popkultur: Konzerte und Festivals haben die Musikkonserve als wichtigsten Bedeutungsträger abgelöst. Waren Festivals wie Woodstock oder Altamont vor Jahrzehnten singuläre Ereignisse mit immensen Zuschauerzahlen (und unberechenbaren Folgen – in Altamont wurde ein Besucher vor laufender Kamera erstochen), so hat sich jetzt eine regelrechte Festivalindustrie in ganz Europa ausgebreitet, die jeden Sommer Dutzende von Großveranstaltungen mit jeweils Zehntausenden von Besuchern anbietet.

Der besondere Kick von Massenveranstaltungen liegt für viele nicht zuletzt im institutionalisierten Kontrollverlust, oft unter gezielter Zuhilfenahme stimulierender Substanzen. Was zusätzliche Risiken schafft: Betrunkene, berauschte oder dehydrierte Konzertbesucher, Fußballfans und Raver werden irrationaler reagieren als nüchtern.

Doch auch wenn die Zusammenballung vieler Menschen auf umgrenztem Raum bei Veranstaltungen gleich welcher Natur immer ein Restrisiko der Eskalation birgt, wäre es kontraproduktiv, ein Klima der Angst zu erzeugen. Vielleicht kann man versuchen, die möglichen Gefahren durch eine Art „Gesellschaftsvertrag“ mit festgeschrieben Grundverhaltensregeln zu minimieren. Diesen auszuarbeiten und so überzeugend zu vermitteln, dass noch der verstrahlteste Raver seine Leitlinien verinnerlicht, könnte eine wichtige Aufgabe für die Zukunft sein.

Roskilde ist zehn Jahre nach der Katastrophe immer noch eines der beliebtesten Rockfestivals Europas. Es geht dort nur etwas gesitteter zu als früher.

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