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Lucrecia Martel im Interview: Aufnehmen, was passiert

Lucrecia Martel, Regisseurin von „La Ciénaga“, über ihre erste Kamera, ihre Familie – und über Marienerscheinungen

Lucrecia Martel, 1966 im argentinischen Salta geboren, zog mit zwanzig Jahren nach Buenos Aires und studierte dort zunächst Kommunikationswissenschaften. Nach einer Reihe von Kurzfilmen begann sie Dokumentationen fürs Fernsehen zu drehen. Für ihr Drehbuch zu „La Ciénaga“ erhielt sie 1999 den Sundance Filmmakers Award und bei der Berlinale 2001 den Alfred Bauer Preis für das beste Debüt. Dieses Jahr war sie Jury-Mitglied der Berliner Filmfestspiele.

„La Ciénaga“ spielt im Nordwesten Argentiniens in einer Region, in der Sie aufgewachsen sind. Wie war es dorthin zurückzugehen, um einen Film zu machen?

Als ich vor „La Ciénaga“ in Buenos Aires einen Kurzfilm drehte, hatte ich immer das Gefühl, dass irgendetwas fehlte. Und als ich dann in Salta drehte, geschah etwas Tiefes und Mysteriöses. Plötzlich wusste ich genau, was ich tue.

Die Familie im Film ist sehr groß. Haben Sie selbst auch so viele Geschwister?

Ich habe sechs Geschwister. Es ist für mich ganz normal, dass viele Leute zusammen kommen. Wenn ich eine Geschichte entwickele, versuche ich immer mit wenig Personen anzufangen, aber dann tauchen immer neue auf – Geschwister, Eltern, Freunde. Die Ereignisse in „La Ciénaga“ sind mir alle sehr vertraut. Natürlich ist der Film Fiktion, aber es gibt schon einen engen Zusammenhang zu meinem Leben.

Sie haben als Teenager angefangen zu filmen. Was haben sie aufgenommen?

Mein Vater hatte mir eine Videokamera gekauft, damals war das noch eine von diesen großen, schweren. Ich habe gelernt wie man damit umgeht, indem ich stundenlang aufgenommen habe, was zu Hause passiert ist. Nach einer Weile ist mir aufgefallen, dass manche Sachen nur deshalb passiert sind, weil ich mit der Kamera dabei war. Es sind neue Ereignisse durch das Filmen entstanden. Ich habe das viele Jahre lang gemacht, fast obsessiv. So lange, bis meine Familie das satt hatte. Vor allem meine Geschwister haben sich irgendwann geweigert.

Wie hat ihrer Familie „La Ciénaga“ gefallen?

Bevor der Film in die Kinos kam, habe ich ihn ihr auf Video gezeigt. Sie hat viel gelacht und meine Geschwister meinten, niemand werde ihn verstehen, es gehe darin ausschließlich um uns. Außerdem hat sich durch den Film einiges geändert. .

Man kann Ihren Film aber auch weniger persönlich interpretieren und ihn als eine Art Metapher für die gegenwärtige Situation Argentiniens sehen.

Das ist eine starke Vereinfachung. Viele Leute meinen, dass eine Metapher eine exakte, reale Entsprechung außerhalb des Films hat. Eine solche Übertragung – Element für Element – halte ich für verfehlt. Zum Beispiel ist die untergehende Kuh in „La Ciénaga“ als eine Metapher für das Untergehen des Landes gesehen worden. Und das Kind, das am Ende stirbt, ist als Tod für die Zukunft Argentiniens aufgefasst worden. Für mich ist das aber nicht so. Der Film beschreibt den Seelenzustand von Menschen.

Die Familie sieht sich im Fernsehen immer die Berichte über eine Marienerscheinung an, und ein Mädchen geht am Ende sogar selbst in den Ort, wo das stattgefunden hat. Was wollten Sie damit zeigen?

In dieser Region gibt es häufig solche Erscheinungen. Ich habe mit Menschen gesprochen, die eine Maria gesehen hatten. Das Ereignis hat deren Leben nicht verändert. Unsere Zeit ist nicht sehr heldenhaft. Das sieht man auch in „La Ciénaga“. Es ist nicht leicht an das Übernatürliche zu glauben oder daran, dass man die Möglichkeit hat, die Lebensumstände zu ändern. So fühlt man sich wenn man in einer Krise steckt und pleite ist. Die seit 25 Jahren andauernde Krise in Argentinien ist aber keine wirtschaftliche, sondern eine spirituelle.

Wird ihr nächster Film „La Nina santa“ auch von diesem Thema handeln?

Nein, das wird eher ein Märchen für Kinder. Es spielt wieder in Salta und wird ein bisschen finsterer.

Das Gespräch führte Nadine Lange.

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