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Kultur: Lügen ist Freiheit

Dieter Wellershoff über Literatur als Raumfahrt und die Kunst des authentischen Lebens

Herr Wellershoff, 1969 haben die Astronauten, bevor sie auf dem Mond landeten, die unbekannte Situation zunächst in künstlichen Räumen erprobt. Im selben Jahr haben Sie behauptet, auch Literatur sei eine „Simulationstechnik“.

Man könnte auch von Fiktion sprechen, von freiem Fantasieren, von Gedankenspielen – von Literatur als einer Art Probebühne, auf der wir unsere Erfahrungen durchspielen bis zu ihren extremsten Möglichkeiten.

Und das ohne Risiko.

Eben weil es Fiktion ist. Man kann sich auf das Abenteuer des Unbekannten ungeschützt einlassen, weil man weiß, es ist nicht die konkrete Realität, die sofort Abwehrreaktionen erzeugt.

Also gilt die Lüge zu Recht als Kunst?

Die literarische Fiktion ist keine Lüge. Sie ist ein anderer Realitätsmodus. Lügen bedeutet, dass man etwas verfälscht oder verschweigt. Mit der Fiktion kann die Erfahrung aber im Gegenteil gerade erweitert werden, weil die Bedingungen der Wirklichkeit entfallen, in der das, was man tut, Konsequenzen hat. Man ist viel offener; man gewinnt einen zusätzlichen Freiheitsgrad.

Kommt man mit Hilfe der Fiktion der Wahrheit näher?

Ja, denn die Wahrheit ist etwas Umfassendes, in dem alle realen Widersprüche mitbedacht sind. Es gibt ein Sicheinspinnen in eine falsche Sicht der Dinge, die Verdrängung, den Selbstbetrug. Aber es gibt auch eine innere Einstellung, der Wahrheit den Vorrang zu geben – vor den beschwichtigenden Denkmustern, den üblichen Trost- und Vermeidungsstrategien. Letztlich müssen wir davon ausgehen, dass sie unvermeidbar ist. Wer die Wahrheit verfehlt, wird es zu spüren bekommen. In der literarischen Fiktion wird sie erfahrbar; hier kann man sich sogar das Sterben vorstellen.

Sterben lernen – als Einübung in die umfassende Wahrheit des eigenen Lebens.

Aber nicht nur in die des eigenen Lebens, sondern auch in die Wahrnehmung des Rechts der anderen. Es gehört zum Selbstbetrug, dass man oft egomanisch denkt, weil man das, was der eigenen Selbsteinschätzung widerspricht, gar nicht zulassen will, um Stabilität zu wahren. Doch eine Grundvoraussetzung des Erwachsenseins besteht darin, sowohl die eigenen Möglichkeiten zu erfüllen, als auch der Umgebung gerecht zu werden.

Und dabei möglichst authentisch zu sein? Das fordert jedenfalls der französische Existenzialismus, von dem Sie sagen, er habe Ihr Denken geprägt.

Authentisch zu sein bedeutet, dass jemand Entscheidungen getroffen hat, die vielleicht schwer, aber für ihn selbst einleuchtend, richtig und förderlich waren. Er hat sich gestaltet und geformt, so dass man sagt: „Das ist er. Er ist einschätzbar.“

Jemand versucht, mit sich im Reinen zu sein.

Natürlich gibt es innerhalb dessen, was man ein authentisches Leben nennt, immer wieder neue Herausforderungen. In diesen Phasen muss die Person in der Lage sein, sich neu zu justieren. Aber sie wird es immer in einer charakteristischen Weise tun. In der Bahn einer kontinuierlichen Lebensgeschichte. Wenn ein Mensch authentisch lebt und dadurch einschätzbar wird, heißt das nicht, dass er durchschaubar und ohne Geheimnisse ist. Aber man kann ihn verstehen; er ist glaubhaft. Und das ist es, was wir an Menschen überhaupt schätzen. Und was sich dann in ihrem Denken, Handeln und Sprechen ausdrückt; in ihrer Körpersprache, im Lebensstil. Das Authentische ist, wenn man so will, eine gewordene Form, in der man einen Menschen erkennt und die seine selbst geschaffene Antwort auf das Leben ist.

Stellen Sie solche Personen dar?

Ich will nicht sagen, dass das immer glückt. Ich versuche aber, auch falsches Verhalten zu verstehen. Und ich erwarte vom Leser, dass er den Komfort der Freiheit, die ihm in der Fiktion gewährt wird, nutzt, um tiefer in die Phänomene einzudringen als die dargestellten Personen das können, die – Bloch würde sagen – „im Dunkel des gelebten Augenblicks“ handeln. In dieser Unwissenheit liegt die Spannung, die ich darstellen will: in Geschichten von Konflikten, von scheiternden Lebensentwürfen, von Selbsttäuschungen, im Unrecht, das man sich selbst und anderen damit antut.

Indem man sich selbst verfehlt?

Ja, denn man verfehlt sich auch, indem man einen anderen verfehlt. Indem man sich nicht in der Komplexität einer Beziehung versteht, sondern mehr von seinen eigenen Ängsten, Wünschen und Trieben her handelt.

Sie gelten als Schriftsteller, der diese seelischen Dimensionen so exakt wie kaum ein anderer ausleuchtet.

Das hängt wohl damit zusammen, dass ich das Schreiben als einen Erkenntnisprozess betrachte. Ich stelle mir mit jeder Figurenkonstellation ein Problem. Dem versuche ich, auf den Grund zu gehen, indem ich es erzähle; und dabei weiß ich selbst gar nicht, was sich mir zeigen wird und wie ich enden könnte.

Sie schreiben ohne Utopie?

Ja. Es muss mit meinen Lebens- und Kriegserfahrungen zu tun haben, dass eine tiefe anthropologische Skepsis in mir entstanden ist. Deswegen finde ich die Menschen aber doch bewundernswert und erstaunlich – wie sie so mit ihrem Leben kämpfen. Und wenn ich sie darstelle, versuche ich, jedem gerecht zu werden. Für mich gibt es keine eindeutig negativen Figuren.

Jeder muss das leisten, was Sie „Die Arbeit des Lebens“ nennen.

Und diese Arbeit ist ein ewiger Prozess, bis zum Schluss. Ich denke sogar, dass die letzte Phase noch einmal eine ganz besondere Herausforderung für den Menschen ist: Abschied zu nehmen von der Welt.

Das Gespräch führte Angelika Brauer.

Dieter Wellershoff wurde am 3.11.1925 in Neuss am Rhein geboren und wuchs in Grevenbroich auf. Als Gymnasiast wurde er 1943 erst zum Arbeitsdienst, dann zum Militär einberufen. 1944 wurde er in Litauen verwundet und gelangte 1945 in Kriegsgefangenschaft . 1946 machte er das Abitur für Kriegsteilnehmer und studierte Germanistik, Psychologie und Kunstgeschichte. 1959 bis 1981 war er Lektor bei Kiepenheuer & Witsch, dem Verlag, der von Anfang an seine Bücher veröffentlichte.

Wellershoff hat sich nicht nur als Erzähler, sondern auch als Hörspielautor einen Namen gemacht. Hervorgetreten ist er außerdem als brillanter Essayist – zuletzt mit dem Band Der verstörte Eros .

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