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Kultur: "Lügen und schweigen": Komplexe Komplexe in therapiefreier Zone - Katrin Dorns neuer Roman

Die geistige Enge einer kleinbürgerlichen mitteldeutschen Familie stand schon im ersten Roman von Katrin Dorn, "Der Hunger der Kellnerin", im Mittelpunkt. Nun geht sie einen Schritt weiter und macht deutlich, wie sehr diese auf Misstrauen beruhende Atmosphäre der Nährboden für ein Leben voller Komplexe sein kann.

Die geistige Enge einer kleinbürgerlichen mitteldeutschen Familie stand schon im ersten Roman von Katrin Dorn, "Der Hunger der Kellnerin", im Mittelpunkt. Nun geht sie einen Schritt weiter und macht deutlich, wie sehr diese auf Misstrauen beruhende Atmosphäre der Nährboden für ein Leben voller Komplexe sein kann. "Lügen und schweigen" ist die Geschichte einer jungen Frau, die weder sich selbst noch den anderen vertraut und ohne Not lügt, bis sie selbst nicht mehr weiß, was die Wahrheit ist.

Vera ist Floristin. Bereits zu DDR-Zeiten war sie aus der thüringischen Provinz nach Berlin gezogen. Sie lebt mit Vincent, ihrem Freund, in einer Zweizimmerwohnung in Prenzlauer Berg. Ein Anruf der Mutter veranlasst Vera, in ihre Heimatstadt zu fahren, wo ihr Vater im Sterben liegt.

Zurück in Berlin, verändert sich ihre Einstellung zu sich selbst und das Verhältnis zu ihrem Freund, dem sie zum ersten Mal von ihren Eltern erzählt, die sie bisher kurzerhand für tot erklärt hatte. Viele Erinnerungen gelten dem Vater, der - es sind die sechziger und siebziger Jahre - eine Elvis-Tolle trägt und innerlich immer auf dem Sprung ist in den Westen, am liebsten nach Amerika. Er blieb, weil er seine Familie nicht verlassen wollte. Bei seinen cholerischen Anfällen gingen immer Berge von Porzellan zu Bruch. Noch an seinem Sterbebett meint Vera, sich rechtfertigen zu müssen.

Katrin Dorn schreibt in einem lässigen, dem Jargon ihrer Generation abgelauschten Ton, und spart auch vermeintlich Alltägliches nicht aus. Ohne in die psychologisierende Diktion einer Befindlichkeitsprosa zu verfallen, erzeugt sie gerade das Maß an Empathie, das notwendig ist, um die Erlebnisse nachzuvollziehen. Sie konkretisiert die Probleme ihrer Generation mit derselben Sorgfalt wie die der Elterngeneration. Deren Sprachlosigkeit ist für sie ein Ausdruck der Hilflosigkeit gegenüber gleich mehreren totalitären Regimen. So gelingt es ihr, einen Bogen über die Zeiten hinweg zu spannen und Korrespondenzen herzustellen zwischen privaten Schicksalen und den Ereignissen der Politik.

Cornelia Staudacher

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