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Lukas Bärfuss’ Roman „Hundert Tage“: Organisierte Hölle

Als das Menschenschlachten kein Ende nahm: Lukas Bärfuss’ Ruanda-Roman „Hundert Tage“

Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Nicht im Ruanda der frühen neunziger Jahre, schon gar nicht 1994, als hier 800 000 Menschen einem grausamen Völkermord zum Opfer fallen. Trotzdem lässt es sich in diesem falschen Leben einrichten, und das tut irgendwann auch der Schweizer Entwicklungshelfer David Hohl, Held und Erzähler in Lukas Bärfuss’ Ruanda-Roman „Hundert Tage“. 1990 kommt er nach Ruanda, um wie so viele Entwicklungshelfer Gutes zu tun und an das Gute zu glauben. Entwickeln ist für ihn nicht nur eine technische Sache: „Es war für uns die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins hin zur universellen Gerechtigkeit.“ Als einer der wenigen bleibt er in Ruandas Hauptstadt Kigali, als das Chaos ausbricht und das Abschlachten zur Regel wird, hundert Tage lang, der Liebe wegen und weil er „kein Feigling in guten Schuhen“ sein will.

Doch in dieser Zeit verändert auch er sich grundlegend, werden auch seine Gedanken korrupt und seine Gefühle käuflich, empfindet auch er plötzlich Genugtuung, einen Feierabend-Mörder anderen, professionellen Mördern auszuliefern, ist es auch ihm plötzlich einerlei, dass in den Flüchtlingscamps selbst die unterkommen, „die das hunderttägige Morden angeführt hatten. Auch sie hatten sich verwandelt, denn für die Hilfsorganisationen gehörten auch Mörder auf der Flucht zu ihrer Klientel, die Essen brauchte, Decken, ein Dach auf dem Kopf.“

Der 1971 in Thun in der Schweiz geborene Lukas Bärfuss, der bislang als Dramatiker hervorgetreten ist, erzählt in seinem Debütroman die Geschichte eines furchtbaren Scheiterns: des Scheiterns der gut gemeinten, aber doch irrelaufenden westlichen Entwicklungspolitik in Ruanda, insbesondere der der Schweiz. Sie ist es, so Bärfuss, die nicht wenig Mitschuld daran trägt, dass die Volksgruppe der regierenden Hutus über die der Tutsis herfällt. Diese Entwicklungspolitik sorgt für die Infrastruktur und die Logistik, etwa die Straßen, auf denen die Mörder fahren, sie lehrt das Handwerk des Tötens, zum Beispiel wie man mit Hilfe der Medien die Menschen zum Morden aufstachelt.

„Hundert Tage“ ist weniger ein Roman mit diversen, fein aufeinandergestimmten Handlungssträngen, sondern hat mehr den Charakter eines literarischen Berichts, der von seinem dramatischen Stoff lebt. David Hohl berichtet, analysiert und erzählt. Um die Form zu wahren, um überhaupt eine Initiation zu schaffen, haben Autor und Lektorat zu Beginn von „Hundert Tage“ einen Ich-Erzähler vorgeschaltet, der Hohl in einem Schweizer Juradorf trifft und sich dessen Ruanda-Erfahrungen schildern lässt. Dieser Erzähler hat kein Eigenleben, er verschwindet nach ein paar Seiten völlig und dient allein der literarischen Konstruktion. Das irritiert zunächst, fällt aber dann nicht groß ins Gewicht: Hohls Schilderungen entfalten ihre eigene Sogkraft. Was auch an Hohls auffallender Schwingungsarmut liegt. An seiner nüchternen Erzählweise, die den „Slapstick des Todes“ mit aller Macht auf Distanz halten will. Es passt da nur zu gut, dass selbst seine Liebe zu der aus Ruanda stammenden Agathe von Beginn an unter keinem guten Stern steht: Als Hohl sie am Flughafen in Brüssel kennenlernt und vor rassistischen Zöllnern zu beschützen versucht, findet Agathe das nur lächerlich: „Ihre Verachtung betraf nicht die Welt, sie betraf allein mich.“ Hier öffnet sich eine Kluft, die sich im Verlauf seiner Tätigkeit nicht schließt.

Bärfuss gelingen eindringliche Szenen und Bilder, auch aus der Tierwelt, bei Hohls Besuch der Berggorillas oder wenn dieser einen Bussard aufpäppelt. Nachhaltig versteht er es, die Abgründe und Ratlosigkeit der Politik zu beschreiben, auch die allein auf den Sex reduzierte Beziehung von Hohl und Agathe. Viele seiner Nebenfiguren aber haben etwas Hölzernes. Sie dienen meist nur der Thesenstützung, und so es sich um Ruander handelt, bleiben sie ganz blass.

Bärfuss ergeht es da wie der von ihm an den Pranger gestellten Entwicklungspolitik: Den Charakter der Menschen in diesem Land vermag er nicht zu ergründen. Da ist der kanadische Journalist und Autor Gil Courtemanche näher herangekommen mit seinem vor vier Jahren auch ins Deutsche übersetzten Roman „Ein Sonntag am Pool in Kigali“. Dieser hat mehr Facetten als „Hundert Tage“, viele der Ruander, denen Courtemanches Held Valcourt begegnet, die er liebt oder bestattet, haben Gesicht, Charakter und Seele. Trotzdem fügt sich „Hundert Tage“ gut ein in die Reihe weniger Bücher, die über den Genozid in Ruanda erschienen sind, neben Courtemanche Hans Christoph Buchs Roman „Kain und Abel“ sowie die Augenzeugen- und Erfahrungsberichte des französischen Journalisten Jean Hatzfeld („Nur das nackte Leben“) und des kanadischen UNO-Generals Roméo Dallaire („Ich gab dem Teufel die Hand“).

Denn gerade in der Verengung der Perspektive, allein mit den Augen des zunächst naiven, später zynischen David Hohl lassen sich umso besser Erklärungsansätze finden und Schuldzuweisungen erteilen. Oder Thesen aufstellen wie jene, dass der Völkermord nur möglich gewesen sei, weil der Staatsapparat Ruandas, „jedem einzelnen Bürger einen festen Platz in der Gesellschaft gab“ und so beste Voraussetzungen für die „perfekt organisierte Hölle“ schuf. Und das unter tatkräftiger Schweizer Unterstützung: „Hätten sie sich nicht an unsere Vorgaben gehalten, so hätten sie keine achthunderttausend Menschen umbringen können, nicht in hundert Tagen.“ Das sind starke Worte in einem analytisch starken, zupackenden Buch, geäußert von einem Mann, für den es auch nach seiner Zeit in Ruanda nur noch ein falsches Leben geben kann.

Lukas Bärfuss: Hundert Tage. Roman. Wallstein, Göttingen 2008, 197 S., 19, 90 €.

Der Autor liest am Dienstag, 6.5., 20 Uhr, im Münzsalon, Münzstraße 23, Mitte

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