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Peter Herbert sammelt und katalogisiert seit über 30 Jahren mutierte Zündhölzer.

© Agnieszka Budek

Lumomonsterologie im Werkbundarchiv: Rest und Schwefel

Sammeln als Subversion: Peter Herbert hat die Lehre von den missgestalteten Zündhölzern erfunden, die Lumomonsterologie.

So sieht also der erste Ost-Berliner im Guinness-Buch der Rekorde aus. Ein schlanker, weißhaariger Mann. Seinem Paar handelsüblicher Ohren, auf dem die Stege einer dunklen Hornbrille ruhen, sieht man gar nicht an, dass Peter Herbert es dahinter faustdick hat. Auch der Schalk im Nacken des Mannes, dessen Tätigkeitsbereiche mit Bezeichnungen wie Museologe und Entomologe nur unzulänglich beschrieben sind, ist vor lauter kariertem Wollschal gar nicht zu sehen. Und doch ist Peter Herberts Schaffen der Beweis dafür, dass der als extrem humorlos verschrieene Arbeiter- und Bauernstaat DDR genau das hatte – Humor. Allerdings eher unfreiwillig. Ebenso versehentlich, wie Peter Herbert, dessen Rekord „Zusammentragen der größten Zündholzabnormitätensammlung“ seit Oktober 1991 in besagtem Standardwerk steht, ein Spaßguerillero wurde. Einfach nur, weil er 1982 die Lumomonsterologie erfunden hat, die mit einer Kabinettausstellung im hochseriösen Werkbundarchiv – Museum der Dinge nun endlich den ihr gebührenden Rang einnimmt.

Kulturtechnik Sammeln

Ratsch, zisch, verbrenn – damit ist der übliche Lebensweg eines Zündholzes hinlänglich charakterisiert. In der Regel. Wenn es das Vierkantstöckchen es jedoch gut trifft, landet es als Werkstoff bei einem Bastler, der entweder ein Kastanienmännchen, eine Skulptur, einen Dampfer oder gar die Kathedrale von Notre Dame daraus fertigt. Diese meist von großer Leidenschaft und erstaunlicher Präzision, aber wenig Stilsicherheit zeugenden Streichholzbauten entsprechen dem, was Ästhetikmissionar und Werkbund-Mitglied Gustav Pazaurek in seinem 1909 veröffentlichten Klassiker „Geschmacksverirrungen im Kunstgewerbe“ ungerechterweise als „Materialpimpeleien“ , also als Objekte aus ungeeigneten Materialien bezeichnet. Die allerglücklichsten Hölzer aber sind ausgerechnet jene, denen in der Produktion ein Unfall zustößt. Die verbogenen, zersplitterten, mal mehrköpfigen oder gar kopflosen Gesellen, die aussehen wie ein vermurkstes Mini-Mikado, nennt Peter Herbert „ Lumomonster“. Das leitet sich von „Lumen“, dem lateinischen Wort für Licht und Leuchte ab. Sie sind Gegenstand der von ihm 1982 begründeten Lehre von den missgestalteten Zündhölzern.

Ihre Anhänger, die Lumomonsterologen, sind nicht zu verwechseln mit Phillumenisten. Letztere sammeln Streichholzschachteln, aber nicht die Hölzer, also nur die Verpackung, aber nicht das Licht, wie Peter Herbert mit leichter Verachtung im Tonfall anmerkt. Dem 61 Jahre alten Herrn selbst ist der Streichholzfetischismus auch nicht in die Wiege gelegt worden. Das Sammeln jedoch schon. „Das muss vererbbar sein“, mutmaßt Herbert, der nach 35 Jahren in Berlin heute in Güstebieser Loose lebt. Dort, im Oderbruch Museum Altranft, betreut er die volkskundliche Sammlung. Sein Vater, ein Biologe, hat Libellen gesammelt. Der Sohn, ein Mineraloge, sammelt millimetergroße Exemplare. Herbert selbst fing im Alter von zehn Jahren Feuer. Für Käfer. Teile seiner umfangreichen entomologischen Sammlung sind inzwischen im Besitz des Berliner Naturkundemuseums. Seit 2006 kümmert er sich speziell um Krabbler aus dem Oderbruch. „Auf die achtet sonst ja keiner.“ Die Kulturtechnik Sammeln ist eben immer auch mikroskopische Weltaneignung mit Herz.

Mutationen aus Holz

Das Schicksal übersehen zu werden, teilten die Käfer mit den Holzmutanten bis endlich Peter Herbert kam. Bei einem feuchtfröhlichen Umtrunk wettet der Agraringenieursstudent, dass er alles in eine wissenschaftliche Taxonomie bringen kann. Sogar das Zündholz, mit dem sich ein Kumpel gerade eine Zigarette ansteckt. Gründervater seiner auf Käfer wie auf Streichhölzer anwendbaren Systematik ist der Naturforscher Carl von Linné. Über den 15 Insektenkästen, in denen seine 980 von mehreren tausend Streichhölzern umfassende „Belegsammlung“ im Museum der Dinge zu sehen ist, prangt das aus der Schnapsidee hervorgegangene das Schema an der Wand – unterteilt in Formenklassen, Familien, Gattungen, Arten.

Die „Faserlinge“, „vielköpfige Drachen“ „Liederlinge“ oder „Rumpfschmelzlinge“, wie er den übersehenen Ausschuss des VEB Zündwarenwerke Riesa nennt, hat er damals auch in Buchform publiziert. Der „Codex Muricidus Primogenitus“, das inzwischen als Reprint vorliegende „Bestimmbuch der Zündholzabnormitäten“, zeigt eine konsequent durchgeturnte Ordnung, die sich ulkigerweise auf einen chaotischen, imperfekten Gegenstand bezieht. Oder wie Peter Herbert sagt: „Das Objekt ist witzig, das System ist bierernst. Wer will, kann gern versuchen, mir einen Fehler nachzuweisen!“

Die Macke des Sammlers

Das dürfte ebenso schwierig sein, wie der Nachweis einer schweren Sammler-Macke. Und beim Betrachten der Formenvielfalt des verkannten Volks der Lumomonster drängt sich ihre Poesie förmlich auf. Der Zauber des sinnfreien, wertlosen Gegenstands, der durch die ihm gewidmete Aufmerksamkeit erst Bedeutung bekommt. Peter Herbert wandert vor den Kästen hin und her, erklärt das Standard-Dreiviertelformat, die vollautomatische Produktion, die – inzwischen digitalisiert – weniger Bruch in die Schachteln entlässt. Seine Lieblinge sind die ganz und gar rot gefärbten Stäbchen. „Sie sind ins Tunkbad gefallen, das sind Raritäten!“ In den Schwefel, der den vorher mit Paraffin präparierten Zündkopf überzieht. Je eingehender man sich mit den Dingern befasst, desto klarer wird: Streichholzherstellung ist mindestens so bedeutend wie die Kernphysik.

Das haben der Magistrat von Berlin, der Kulturbund und Verlage in den Achtzigern unverständlicherweise anders gesehen. Ein dicker Aktenordner dokumentiert den Schriftverkehr, den Herbert und die rund 30 Mitglieder der lumomonsterologischen Gesellschaft geführt haben, um der „Wissenschaft“ eine Mitgliedschaft als Fachgruppe im Kulturbund zu erstreiten (klappte nicht) und das Bestimmbuch herauszubringen (klappte).

"Viel Erfolg mit ihrem sinnlosen Hobby!"

Köstlich ist auch die Videoaufzeichnungen einer Fernsehsendung, in der ein Reporter Herbert mit den Worten „Ich wünsche ihnen für ihr sinnloses Hobby weiterhin viel Erfolg“ verabschiedet. Dass die Redaktion für den Humorbeweis von oben mächtig Haue bekam, hat Herbert erst 2005 erfahren. „Es war eine Fopperei, aber wir wollten damit keine Subversion oder gar Planwirtschaftskritik betreiben, sondern nur die gesetzlichen Möglichkeiten nutzen.“ Und die waren in der DDR gelegentlich dann doch dehnbarer als gedacht.

Die Lumomonsterologie ist eine Schnapslaune, eine sportliche Herausforderung, die sich verselbstständigt, (fast) unbehelligt von der Staatsmacht zu Ausstellungen, Tagungen und breiter Berichterstattung führt und bis zur Wende läuft. In der Zündholzfabrik Riesa bekommt Herbert trotzdem Hausverbot. Der Direktor zürnt, dass die Lumomonsterologie das Qualitätsstreben der Zündholzfacharbeiter untergrabe. Und dass, obwohl Herbert bis heute die Qualität aus Riesa preist.

Auch als konsumkritischer Philosoph des Imperfekten in einer perfektionsverliebten Welt mag sich der letzte Lumomonsterologe nicht sehen. Die Sache ist viel einfacher: Ein Systematiker sieht die Normalform – und fandet sofort nach ihrer Abweichung. Sie ist es, die das Wesen eines Dings erst so richtig verklärt.

Werkbundarchiv – Museum der Dinge, Oranienstr. 25, bis 26. 3., Do-Mo 12-19 Uhr

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