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Kultur: Lust am Seitenblick

Die Berliner Galerie imago fotokunst präsentiert den Rodtschenko-Zeitgenossen Boris Ignatowitsch

Russische Fotografie reduziert sich hierzulande auf nur wenige Namen. Und gerade aus den experimentierfreudigen Zwanzigerjahren kennt man gemeinhin nur Alexander Rodtschenko, als hätte er allein die fotografische Avantgarde verkörpert. Freilich öffnen sich die Archive in Moskau auch nicht jedem. Über gute Kontakte verfügt etwa die Berliner Galerie imago fotokunst, spätestens nachdem sie vor einem Jahr die vergessenen Kriegsfotografien von Asmus Renner wiederentdeckte und in einer Ausstellung publik machte. Die sorgfältig komponierten Aufnahmen, die in der zwiespältigen Situation des Besatzungssoldaten echtes Interesse am russischen Landleben bezeugten, empfand man in Moskau als wohltuend. Der Verband der Kunstfotografen Russlands bot anschließend der Galerie an, das Oeuvre eines Meisters aus dem Umkreis von Rodtschenko in Berlin zu präsentieren.

Boris Ignatowitsch, in Moskau 2002 mit einer umfangreichen Personalausstellung geehrt, lebte von 1899 bis 1976. Seinen Aufstieg aus der Provinz zu einem bedeutenden Fotografen, der den geforderten optimistischen Blick auf das sowjetische Leben mitbrachte, verdankte er der relativ offenen Atmosphäre nach 1917. Neue Talente konnten zumindest anfangs rasch ihr Betätigungsfeld finden. Die ältesten beiden Aufnahmen des Westukrainers in der gut fünfzig Arbeiten umfassenden Auswahl (die neuen Silbergelatine-Handabzüge kosten 400 bis 500 Euro) bei imago zeigen bei einem „Erntefest“ von 1920 aufgetürmte Getreidesäcke, über die jemand triumphierend ein Transparent schwenkt, und im gleichen Jahr das „Gemeinschaftsessen“ einer langen Reihe von Arbeitern. Die Lust zum exklusiven Schräg- und Seitenblick muss Ignatowitsch intuitiv überkommen haben, längst bevor er in Rodtschenkos „Oktobergruppe“ mitarbeitete.

Ganz im Sinne der Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen, die Ignatowitsch mit Aufträgen versorgten, dominieren in den Zwanziger- und Dreißigerjahren die Aufbauthemen. Bauarbeiter balancieren auf in den Himmel weisenden Eisenträgern. Bei den obligatorischen Maidemonstrationen auf dem Roten Platz scheint der Fotograf jedes Jahr dabei gewesen zu sein, aber er zeigt nicht die jubelnde Menge, sondern erschafft futuristische Kompositionen aus Körpern, Losungen, Musikinstrumenten und Symbolen. Eine Ikone wurde das im schweren Jahr 1937 aufgenommene Porträt eines jungen, mehr der Zukunft als sich selbst zugewandten Liebespaares. Im Gegensatz zu Rodtschenko stand Ignatowitsch keine private Muse als Modell zur Verfügung, er blieb immer auf Leute von der Straße angewiesen.

Zuweilen entfloh er dem Pathos der Zeit in den gewöhnlichen Alltag: Arbeiter bei der Teepause, Kinder auf dem Ofen, Schachspieler im Park. Wie von dunklen Vorahnungen erfüllt wirken zwei Aufnahmen aus dem damaligen Leningrad: Menschen im Gegenlicht vor der düsteren Silhouette des Winterpalais’. Im Krieg fotografierte Ignatowitsch eine Partisaneneinheit im Hinterland und kam in der Armee von General Schukow sogar schon einmal bis nach Berlin.

Galerie imago fotokunst, Auguststraße 29c, bis 8. November, Dienstag bis Freitag 12 – 19 Uhr, Sonnabend 14 – 18 Uhr.

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