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Roboter und chinesische Schriftzeichen: Wie zeitgenössische Kunst dem Luther-Jubiläum begegnet

In Wittenberg und Berlin widmen sich zahlreiche Künstler im Jubiläumsjahr des Thesenanschlags dem Reformator Martin Luther. Erstaunlich viele chinesische Künstler sind darunter.

Das alte Gefängnis in Wittenberg ist wieder voll belegt. 1906 errichtet, diente der lehmfarbene Bau fast sechzig Jahre als Haftanstalt. Zuletzt war im Erdgeschoss das Wittenberger Grundbuchamt untergebracht. Ein handgeschriebenes Türschild an Zimmer Nr. 4 erinnert noch an die Grundbuchführerin Frau Streifinger. Seit 2005 steht das Haus leer.

Jetzt sind für die Ausstellung „Luther und die Avantgarde“ rund siebzig zeitgenössische Künstler in die sieben bis elf Quadratmeter großen Zellen gezogen. Für jede Arbeit steht ein eigener Raum zur Verfügung. Das ehrgeizige Projekt wurde initiiert von einem Kuratorenteam rund um Walter Smerling und die Bonner Stiftung für Kunst und Kultur. Neben der Hauptausstellung sind zwei weitere Kapitel in der Kasseler Karlskirche und in der Berliner St.-Matthäus-Kirche zu sehen.

In Wittenberg begleitet ein feiner Fries mit chinesischen Schriftzeichen die Besucher durchs Treppenhaus. Die Künstlerin Jia hat alle Zeichen, die mit der Schreibreform während der Kulturrevolution verboten wurden, an die Wand gemalt. Die fast abstrakten Linien korrespondieren mit den Zeitrechnungen, die Häftlinge an die Wände ritzten.

Ein Industrieroboter des Karlsruher Kollektivs Robotlab schreibt lautlos mit Kalligrafenfüller und schwarzer Tinte die Bibel in Schwabacher Lettern aufs Papier. Bis zum Ende der Ausstellung Mitte September soll der Metallarm die ganze deutsche Bibelübersetzung aufgezeichnet haben. Die Maschine muss nicht nachdenken, macht keine Pause und schläft nicht. Sie demonstriert anschaulich die physische Leistung des Bibelübersetzers Martin Luther. Aber die Arbeit verblüfft auch, weil eine programmierte Mechanik den spirituell aufgeladenen Text wie aus dem Stegreif reproduziert.

Luther als Denkmodell

Die assoziative Schau nutzt Martin Luther „als Denkmodell“, wie Kuratorin Xu Dan von der Stiftung für Kunst und Kultur es nennt. Der Reformator wird zur Projektionsfläche für die Künstler der Gegenwart. Die Arbeiten folgen drei Grundmotiven, neben Religion und Freiheit wirkt am faszinierendsten die Auseinandersetzung mit Schrift. Der mediale Wandel durch die Erfindung des Buchdrucks ist heute, nach der digitalen Revolution, umso besser nachvollziehbar. Martin Luther „schrieb um sein Leben und rettete es durch sein Schreiben“, spitzt Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann Luthers Kommunikationstalent im Katalog zu und listet die Wortschöpfungen des Sprachspielers auf: Morgenland, Feuereifer, Denkzettel, Herzenslust oder Lästermaul.

Die schmunzelnde Videoinstallation von Eija-Liisa Ahtila lässt ahnen, was es vor 500 Jahren bedeutet haben mag, plötzlich Bibelgeschichten in Deutsch lesen zu können. Die Finnin lässt zwei Schauspielerinnen eine Schlüsselszene des Christentums nachstellen – die Verkündigung. Tausendfach gemalt, sollen die beiden Frauen von heute die Posen von Maria und Erzengel Gabriel für den Film übersetzen, mal freudig, mal erschrocken, mal demütig. Maria trägt Dreadlocks, der Engel raschelt mit schwarzem Gefieder. Über der seltsamen Begegnung schwebt bei allem ursprünglichen Ernst leise Komik.

Unumstritten ist Luthers Leistung, die Bildung von Mädchen und Frauen vorangetrieben zu haben. Daran knüpft die Leipziger Künstlerin Luise Schröder mit ihrer vielschichtigen Arbeit „Fake News“ an, für die sie die jüdische Schriftgestalterin Elisabeth Friedländer wiederentdeckt hat. Schröder fand heraus, dass von 100 Gedenktafeln in Wittenberg nur vier Frauen gewidmet sind. Um die Statistik zu heben, entwarf sie eine Tafel für den „Generalstreik der Frauen Wittenbergs am 4. Mai 1987“. Auch wenn der Streik vielleicht nur als Idee existierte, basiert die Schrift doch auf einem realen Entwurf von Elisabeth Friedländer, die vor den Nazis nach England fliehen musste.

In großem Bogen umkreisen zwei Arbeiten Luthers Antisemitismus. Manuel Graf rückt das diffamierende Relief von der sogenannten „Judensau“ von 1305 in den Blick, das an der Wittenberger Stadtkirche hängt. In zartem Milkablau glänzt jetzt das Relief einer Kuh an der Außenwand des Gefängnisses. Und Yury Kharchenko recherchiert die Geschichte seines Großvaters, der in der Roten Armee seinen jüdischen Namen Grynszpan ablegte, um nicht mit Herschel Grynszpan in Verbindung gebracht zu werden. Dessen Attentat auf den deutschen Botschaftsattaché in Paris war der Vorwand für die Novemberpogrome 1938. Der 10. November ist der Geburtstag von Martin Luther.

Woher die vielen Chinesen?

In der kritischen Sicht auf Luther bekommt die Ausstellung Biss, wenn sie aber die Assoziationsräume für Freiheit und Glauben öffnet, wird das Lutherbild schwammig. Da wirkt die Auswahl der Werke beliebig. Das poetische Video „Asylum“ von Julian Rosefeldt ist ebenso politisch korrekt wie Achim Mohnés Porträt von Edward Snowden. Weil das Kuratorenteam auch die Ausstellung „China 8“ organisierte, beschäftigen sich erstaunlich viele chinesische Künstler mit Martin Luther. Am präzisesten reagiert aus eigener Erfahrung Ai Weiwei auf die Gefängnissituation. Er hat die Umrisse seiner Gestalt in Beton gegossen und die beiden Hälften in die enge Zelle gestellt. Das Empfinden von Unfreiheit nimmt den Besuchern die Luft zum Atmen.

Alexander Kluge weist auf das Gefängnis im eigenen Kopf hin, mit – Zitat Luther – „nur einer Tür: dem Ohr“. Eine punktgenaue Antwort auf die Frage, wie sich Weitblick lernen lässt: durch Hören. Während Günther Uecker, der selbst einmal mit dem Nagel heilige Museumshallen stürmte, eindeutig christliche Motive verwendet, negiert Jonathan Meese radikal jede Religion. Was würde passieren, wenn der beredte Uecker auf den beseelten Meese träfe? Leider verhindern die Einzelzellen den Dialog der Kunst.

Und dann donnern doch noch gewaltige Schläge gegen die Kirchentüren. Das Künstlerduo Gilbert & George, das oftmals als lebende Skulpturen wie aus dem Ei gepellt still in der Ecke steht, lässt in der Berliner St.-Matthäus-Kirche die Fetzen fliegen. Die großformatigen Fotomontagen aus der Sündenbock-Serie hängen dicht an dicht in revolutionärem Rot und Schwarz auf zwei Stockwerken. Die Bilder vermitteln physisch die Spannung zwischen religiösem und säkularem Leben. Immer wieder tauchen die beiden Künstler auf, zwischen schwarz verschleierten Frauen oder wie Selbstmordattentäter mit bombenähnlichen Metallbehältern am Anzug. Dabei handelt es sich um Kartuschen mit Lachgas, das Jugendliche in London zum Vergnügen inhalieren.

Die schwer zu ertragende Gleichzeitigkeit von Widersprüchen erzeugt hier Sprengkraft. Dazwischen stehen die Herren mit Mitte siebzig, in feinem Zwirn, Blume im Knopfloch, vergnügt funkelnden Augen, und reden Klartext. „Da sind diese fundamentalen Religionen, die glauben, dass es einen Gott gibt“, sagt Gilbert, „und wir glauben, es gibt keinen Gott“. „Das Leben ist wie Urlaub“, sagt George“, verglichen mit dem, was danach kommt“. Mit ihrer Lust an der Provokation hätten sich die Gentlemen wohl gut mit dem Reformator verstanden.

„Luther und die Avantgarde“, Wittenberg, Altes Gefängnis, Berliner Straße Ecke Lucas-Cranach-Straße, Mo–So 10–19 Uhr, Berlin: St. Matthäus-Kirche, Matthäikirchplatz, Di–Sa 11–18 Uhr

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