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Kultur: Lutz & Camillo

Eine Bekannte riet mir neulich, diese Kolumne mit Erbaulichem zu füllen und somit die Leser für ihre harte Arbeitswoche zu stärken. Da ich immer auf wohlmeinende Bekannte höre, war ich bester Dinge und wollte, ein gütiges Lächeln auf den Lippen, gerade dazu ansetzen, über die Serviceleistungen der Telekom, die dopingfreie Tour de France oder Kurt Becks Chancen, Bundeskanzler zu werden, nachzusinnen.

Eine Bekannte riet mir neulich, diese Kolumne mit Erbaulichem zu füllen und somit die Leser für ihre harte Arbeitswoche zu stärken. Da ich immer auf wohlmeinende Bekannte höre, war ich bester Dinge und wollte, ein gütiges Lächeln auf den Lippen, gerade dazu ansetzen, über die Serviceleistungen der Telekom, die dopingfreie Tour de France oder Kurt Becks Chancen, Bundeskanzler zu werden, nachzusinnen. Doch dann erreichte mich eine Nachricht, die mich wie ein Keulenschlag traf: Lutz Görner verfügt seit kurzem über eine neue Homepage, www.rezitator.de! Ja, genau, jener im Rheinland aufgewachsene Mann, der seit Jahrzehnten die Lyrik aller Völker und Länder traktiert. Jener Lutz Görner, der nach eigener Aussage „Hunderttausenden“ geholfen habe, die „Meisterwerke deutscher Dichtkunst neu zu entdecken“, und der, wieder nach eigener Aussage, in seiner Person „schauspielerische und didaktische Begabung mit umfassender Bühnenerfahrung und der Gründlichkeit eines Forschers“ verbinde.

Ich muss es offen sagen: Diese Rezitationen zählen zum Schlimmsten, was man Lyrik antun kann. Neruda, Fontane, Karl Valentin, Szymborska, Lessing ... niemand darf sich sicher fühlen vor Görners ausladenden Handbewegungen, mutig gemusterten Hemden, neckischen Augenaufschlägen und herabgezogenen Mundwinkeln. Eine Deklamation des Schreckens – doch warum erzähle ich das und verderbe Ihnen den Tag? Ich wollte ja tun, was meine Bekannte sagt, weshalb diese Kolumne jetzt einen überraschenden Dreh bekommt und harmonisch zum gestrigen Muttertag überleitet.

Da ich meistens genötigt bin, diesen Tag fern von meiner geliebten Mutter zu verbringen, pflegen wir seit Jahr und Tag ein Ritual. In aller Frühe rufe ich Muttern an und singe ihr ein Ständchen, immer das gleiche: Camillo Felgens schmelzend kitschiges „Ich hab Ehrfurcht vor schneeweißen Haaren“, die, so der leider nicht mehr unter uns weilende Luxemburger Sänger, der Mutter Gesicht verschönen. Die Meinige hört sich den nachweislich schlechten Gesang ihres Sohnes in aller Ruhe an und gibt, auch das verlässlich stereotyp, zu bedenken, dass ihr Haar keineswegs schneeweiß zu nennen sei. Womit sie recht hat, denn ihr immer noch volles Haar hat eher einen Farbton, wie wir ihn aus Funny van Dannens Frühwerk kennen („Als Willy Brandt Bundeskanzler war, hatte Mutti noch goldenes Haar“).

So war und ist das mit dem Muttertag bei uns zu Hause. Die Menschen sind ja verschieden. Ein Gedicht habe ich meiner Frau Mama übrigens noch nie aufgesagt, auch trostlose Geschenke wie eine von Lutz Görner besprochene Heine-CD blieben ihr stets erspart. Aber von dem sollte hier ja sowieso nicht mehr die Rede sein.

Rainer Moritz

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