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Kultur: Mach den Kopf zu

Sie wollen das Jahr vergessen? Wir zeigen Ihnen, wo es am schnellsten geht. Eine Reise ans Ende der Nacht.

ZUM HECHT

Das Grauen lag hinter uns, wir kamen aus München. Und als das Flugzeug an jenem Abend endlich 585 Kilometer weiter nördlich aufsetzte, hatten wir noch Bock auf zwei, drei entspannte Biere. „Komm mir jetzt bloß nicht mit Prenzlauer Berg“, maulte mein Kumpel und lotste mich ins „Cheers“, eine fiese Karaokebar, die im Keller eines Charlottenburger Hinterhofs versteckt ist. Wir tranken, tranken und griffen nach einigen Schnäpsen zum Mikrofon, um die Hits von Roxette zu trällern. Um 4 Uhr war Schluss. Feierabend.

Und nun? Tief im Westeeen, wo die Sonne verstaubt, tief im Weeesteeen Berlins? Am Ku’damm fiel uns nichts ein, fürs Café Keese waren wir zu aufgekratzt. Plötzlich bekamen wir eine SMS. Die Nachricht: „Sind im hecht. unglaublich. kommt rüber. am stutti.“

Der „Stutti“, Stuttgarter Platz, ist eigentlich gar kein Platz, vielmehr eine missratene Kreuzung. Dort gibt es Hochhäuser, Reisebusparkplätze und manchmal SEK-Einsätze, weil im Drogenmilieu herumgeballert wird. Dort befand sich einst die Kommune 1 mit Uschi Obermaier, dort gibt’s heute Puffs mit Namen wie Blue Bananas. Mehr Westberlin geht nicht.

Die Kneipe Zum Hecht passt sich hervorragend dem „Stutti“ an. In der Fensterscheibe blinkt rund um die Uhr die kernige Botschaft: „Hecht-Bier + Kümmel = 3 Euro“. Gut, so ein Kümmel ist eher ein schmackhaft-merkwürdiges Altherrengetränk, das Angebot aber war fair. Deshalb wunderten wir uns auch nicht, dass auf dem Tresen eine ältere Frau schlief. Der Laden war wunderbar, wirkte so assi, dass sich nie, nie Stylomaten reintrauen und nerven würden. Stattdessen kamen immer mehr kichernde Partyleute auf ein letztes Absackerbier. Wir tanzten mit Mädchen, tranken auf Atzenschaft, johlten, lachten, während Berlin hinter den gelblichen Gardinchen erwachte.

Wie der Abend endete, weiß ich nicht mehr so genau, sonst wär’s ja auch keine Absturzpinte. Aber es muss so gegen acht Uhr gewesen sein. Da hatte das Mädchen mit den blonden Locken – Lisa hieß sie, glaube ich – vorgeschlagen, zum Schlachtensee zu fahren. Vorher bestellte sie noch ein letztes „Bärchen“- Pils. Knutschen mit Kümmelgeschmack geht gar nicht. André Görke

MYSLIWSKA

Die beiden vielleicht größten und kaputtesten Sausen im Mysliwska in Kreuzberg gab es, als der Laden seine Abschieds- und Schließungsfeiern ausrichtete. Das war beim ersten Mal noch schön erinnerungsselig, voller Melancholie, hatte beim zweiten Mal aber was Routiniertes. Man wusste da schon: Der Witz mit der Schließung war gut, aber es geht hier doch immer weiter. Selbst wenn es danach tatsächlich nicht immer aussah: Das Mysliwska am Ende der Schlesischen Straße Richtung Treptow hatte von Beginn an etwas Desperates, strahlte etwas Wastelandmäßiges aus, wofür nicht zuletzt die vielen allein an der Theke sitzenden Männer zwischen 35 und 45 sorgten.

Zwei karge Räumlichkeiten mit einer Theke gleich rechts am Eingang, ansonsten Tische und Stühle, düstere Farben und Lichter, Old-School-Tapeten. Und hinter dem zweiten Raum gab es noch ein düsteres Verlies, in dem die Betreiber immer mal wieder vergeblich versuchten, ein bisschen Clubatmosphäre zu schaffen, zwei Plattenspieler und DJ–Sets gehörten sowieso immer mit zum Kneipenprogramm. Zu den Betreibern gehörte übrigens ganz am Anfang auch der in diesem Jahr verstorbene Kunstkritiker Harald Fricke, der gelegentlich davon sprach und klagte, noch mindestens 8000 Mark in dem Laden stecken zu haben,

Im Mysliwska wurde einfach alles ganz Kohl-mäßig ausgesessen und ausgetrunken – und siehe da: Irgendwann kamen die Künstler und Künstlerinnen aus den benachbarten Ateliers, die Pflumms und Richters, die Medienmenschen aus Mitte, da war das Mysliwska sogar Gegenstand einer Ausstellung im Bethanien. Noch einmal irgendwann später wurde die Schlesische Straße zur obersten Ausgehmeile, zu einer zweiten Oranien- und Oranienburgerstraße. Plötzlich mittendrin: das Mysliwska. Inzwischen ist der Laden ein Leuchtturm, der schon die schlechten Zeiten gesehen hat und trotzdem noch da ist, ein Nachtleben-Dinosaurier, so wie das Hackbarts in der Auguststraße (was man bei dessen Eröffnung auch nie gedacht hätte) oder das Luxus in der Belforter Straße. Das Schöne aber ist, dass das Mysliwska zwar jetzt so voll wie nie seit seiner Gründung Anfang der neunziger Jahre ist, das Heruntergewirtschaftete aber immer noch eines seiner hervorstechendsten Merkmale bleibt. So viel alte Säufer und Säuferinnen zwischen den vielen jungen und auch weiblichen Hüpfern wie hier gibt es in keinem der vielen neuen, hippen, aber doch eher uncharakteristischen Läden in der Nachbarschaft. Gerrit Bartels

KUMPELNEST 3000

Tatsächlich erlebt: Die Tür geht auf, zwei uniformierte Polizisten kämpfen sich zwischen dicht gedrängten Gästen bis zur Theke vor und schreien der Kellnerin über die Musik hinweg folgenden Satz ins Ohr: „Wir suchen eine rothaarige Prostituierte und einen Inder mit Turban – sind die hier?“ Kopfschüttelndes Verneinen auf der anderen Thekenseite.

Dabei ist das Kumpelnest für solche Anfragen im Prinzip die beste Adresse: Wenn irgendwo in Berlin rothaarige Nutten mit Turban-Indern tanzen, dann hier. Anderthalb winzige Räume, vollgestopft mit abgerocktem Kitschdekor, zugedröhnt mit konfusem Schlagerquark – und spätestens ab zwei Uhr nachts zum Bersten voll mit der krudesten Gästemischung, die diese Stadt zu bieten hat. Am besagten Abend etwa hätten die uniformierten Herren die Wahl gehabt zwischen mehreren Indern (durchweg turbanlos), einem Dutzend besoffener Hausfrauen (blondierte Dauerwellen, um die fünfzig), zwei baumlangen Senegalesen (eng umschlungen mit den 25 Jahre älteren Hausfrauen tanzend), drei Transvestiten (eine davon mit entblößten Plastikbrüsten), einer arabischen Haschdealergang (postiert auf dem Herrenklo), zwei völlig enthemmten Asiatinnen (auf der Theke tanzend), einem greisen Gigolo mit Hut und Einstecktuch (vor der Theke Fern-Tango mit den Asiatinnen tanzend) sowie diversen Prostituierten in allen Haarschattierungen des Regenbogens (Ausnahme: rot).

Pech für die Polizisten. Glück für alle anderen. Denn wenn gar nichts mehr geht, geht immer noch das Kumpelnest. Und wer hier reingeht, geht allein nicht wieder raus, ob er will oder nicht. Voraussagen lässt sich nicht mal, ob man den Laden um neun Uhr morgens am Arm einer rothaarigen Professionellen verlassen wird, am Turbanwickel eines glutäugigen Inders – oder in Handschellen. Jens Mühling

CCCP

Ein Uhr. Sabine schenkt nach. Wodka. Auf Sabines Ellenbogen hockt ein Marienkäfer. Er schnurrt zusammen, als sie mit langem Arm nach der Flasche im Regal unter dem Revolver greift. Mit einem Schwung füllt sie die Schnapsgläser, beugt den Arm, und der rote Käfer bläht sich auf wie ein Ballon. Irre Tätowierung.

Wir sitzen auf alten Sofas im CCCP, korrekt gesprochen SSSR: Soyuz Sovietskikh Sotsialisticheskikh Respublik. Vergessen die Welt da draußen, bauen uns eine eigene. Ist leicht hier, in diesem Loch, das sich nach der großen Sowjetunion benannt hat. Ein Raum, Sessel, Schirmlampe, Flipper, keine Fenster, aber sagenhafte Aussicht. So wie in dem Wunderland, in das Alice stürzt. Darum geht’s doch: Sich mal fallen lassen, delirieren, ein bisschen Wärme, die Völkerfreundschaft. Vergesst das Kaffee Burger, lacht über das White Trash, weint nicht länger um das Slomo!

Zwei Uhr. Wer ist bloß die große Dunkelhaarige, die mit gespreizten Beinen an der Wand neben dem Eingang hängt? Selbstbewusst, großformatig, unten rum nackt. Grimmig beäugt von Rembrandts Mann mit dem Goldhelm schräg daneben. Unter den Gemälden schläft schon einer, sie malen ihm mit Lippenstift einen Vogel auf die Stirn. Franz, der Penner, lässt sich mit dem Schläfer knipsen.

Ja, man ist ihr schnell entkommen, der schnöseligen Mitte da draußen. Der DJ, ein Mixer vor dem Herrn: Rap aus Rio, Punk aus Bukarest, Kelis, Elvis, MC5, Tschaikowsky. Der Ahnungslose, der auf der windigen Torstraße an dem dunkelroten Flachbau vorbeigeht, ahnt nichts, hört nichts, sieht nur das baumelnde Surfbrett und das Jesusplakat. Denkt sicher: zu eng, zu dunkel, zu schmuddelig, zu bescheuert, schlechte Luft, uncool. Hat er vollkommen recht. Geh nur weiter, lach nur, deine Augen werden sich nie mit Tränen füllen.

Drei Uhr. Hinter der Eingangstür sitzt eine Gepiercte auf einem Barhocker. Neuankömmlingen ruft sie zu: „Ein Euro, meine Lieben.“ Sie wird von einem Lederjackentypen vollgequatscht, der seine Blondine beeindrucken will und glaubt, er komme so rein. Er kenne ja schließlich die Chefs, Wladimir und Denis, Russen, so wie er. Sie lässt sich nicht besabbeln. Er drückt ihr zwanzig Euro in die Hand und schiebt sich zum Hinterzimmer durch, vorbei an dem Breschnew-Poster. Klopfsignal, die Schiebetür geht auf. Der Raum ist weiß wie der Hase von Alice.

Vier Uhr durch. Obligatorischer Auftritt: die Turnerin. Tanzt mit weiten Augen auf dem Teppich, macht Spagat und greift zwei Kerlen zwischen die Beine. Die denken: Da geht was. Aber sie ist bis unter die Haube voll mit künstlichem Glück, zappelt wie ein Aal. Bleibe sitzen, habe am gleichen Tisch mal mit Stipe Erceg und anderen Visagen gepokert. 90 Euro an Stipe verloren, die Sau.

Fünf Uhr. Endlich: „Hi, I’m Rebecca, do you have a girlfriend?” Was nach drei Uhr geantwortet wird, kann getrost vergessen werden. Flieg, Marienkäfer, flieg. Im Osten geht die Sonne auf. Philipp Lichterbeck

ANKERKLAUSE

Die Ankerklause, maritim-kulturelles Epizentrum eines upcoming Berliner Zwitterbezirks mit dem leicht albernen Namen Kreuzkölln, ist die beste Absturzkneipe, die ich kenne – aber nur donnerstags, wenn dort auch getanzt wird. Denn tanzen gehört zu den wichtigsten Bedingungen eines Absturzes. Wer schlaff am Tresen sitzt, ist nicht nur rein physisch gesehen unbeweglich.

Hinter der Bar hängt schon seit Jahren ein Schild: „Gedränge nur dem Dieb gefällt, drum Augen auf und Hand aufs Geld.“ Ich bin mir sicher, dass das Gedränge in der Ankerklause nicht nur dem Dieb gefällt.

Denn wenn man in der Ankerklause tanzt, reibt man sich aufgrund der räumlichen Enge automatisch an mindestens drei anderen schmucken Körpern. Ob einem das nun gefällt oder nicht: Man tritt relativ schnell in Kontakt. Mit dem Obst- und Gemüseverkäufer vom Kottbusser Damm und dem verträumten Germanistikstudenten zum Beispiel.

Kurz gefasst, die Ankerklause ist eine Abschlepplokalität erster Güte. Auch wenn man als Frau drei Beine hat und einen Buckel, wird sich jemand finden, der genau das attraktiv findet. Es herrscht nämlich grundsätzlich Männerüberschuss. Vor einem aufdringlichen Verehrer flüchten, das allerdings gestaltet sich hier extrem schwierig. Selbst auf der winzigen Toilette ist man nicht sicher.

Es versteht sich von selbst, dass man den Laden am Ufer unter keinen Umständen allein besuchen sollte. Aber zusammen mit einer guten Freundin kann man viel, viel Spaß haben. Und wenn der Morgen graut, ist das Selbstbewusstsein („Mich will sowieso keiner mehr“) wieder frisch lackiert. Esther Kogelboom

Zum Hecht, Stuttgarter Platz, Charlottenburg.
Mysliwska, Schlesische Straße 35, Kreuzberg.
Kumpelnest 3000, Lützowstraße 23, Tiergarten.
CCCP, Torstr. 136, Mitte.
Ankerklause, Kottbusser Damm 104, Kreuzberg.

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