zum Hauptinhalt

Kultur: Machtkampf in Jugoslawien: Der böse Zauber wird verschwinden

Serbien ist in Revolutions-Stimmung. Ich sage das nicht deswegen, weil einige hunderttausend Menschen auf den Straßen Milosevics Rücktritt fordern.

Serbien ist in Revolutions-Stimmung. Ich sage das nicht deswegen, weil einige hunderttausend Menschen auf den Straßen Milosevics Rücktritt fordern. Ich sage das deswegen, weil meine achtjährige Tochter von der Schule kommt und Anti-Milosevic-Slogans ruft, die sie von ihren Freunden gelernt hat. Und weil meine 68-jährige Tante, die sich nie besonders für Politik interessiert hat, nun nachts auf die Straße geht und riskiert, verhaftet zu werden, weil sie Aufkleber mit den Worten "Er ist am Ende" über Milosevic-Wahlplakate klebt. Es bewegt sich etwas Tiefgreifendes unter der trüben Oberfläche serbischer Politik, denn neben seiner Schläue und Brutalität ist da nichts, was Milosevic an der Macht halten kann. Deshalb ist er diesmal wirklich am Ende, egal, ob er den einfachen Weg wählt und sich in einer Ecke der Welt niederlässt oder ob er auf ein gewaltvolles Ende in der Art von Mussolini oder Ceausescu aus ist.

Bald wird Serbien frei sein von dem Mann, der in den letzten 13 Jahren in seinem Land das Schlimmste hervorgerufen und auch in den Nachbarstaaten alles, was ihm im Weg stand, pervertiert und zerstört hat. Wie eine schlafende Schöne nach dem Kuss des Traumprinzen wird Serbien erwachen - unter der Führung von Vojislav Kostunica - und auch alles andere wird wieder zum Leben erweckt. Wie ein böser Zauber wird Milosevic in einer Rauchwolke verschwinden. Und wir werden, wie es Kostunica einst versprochen hat, ein langweiliges, durchschnittliches europäisches Land sein, mit durchschnittlicher Wirtschaft und einer durchschnittlichen Beziehung zu seinen Nachbarn, einem durchschnittlichen Gesundheitssystem und einem durchschnittlichen politischen Leben. Kostunica hat vor allen anderen begriffen, dass das serbische Volk gelitten hat an einer Überdosis Geschichte und historischer Ambition. Er hat ihnen statt dessen langweilige Normalität versprochen. Und das funktioniert. Aber ist es tatsächlich so einfach?

Viele von den Menschen, die heute für Kostunica stimmen, haben 1991 Blumen auf jene Panzer geworfen, die nach Vukovar fuhren. Und im darauf folgenden Jahr waren sie davon überzeugt, dass die Bürger von Sarajewo ihre eigenen Kinder erschießen und unschuldige Serben dafür verantwortlich machen. Diese Menschen konnten detailliert erklären, wie das Massaker von Srebenica von westlichen Geheimdiensten inszeniert wurde und wie CNN die ethnischen Säuberungen im Kosovo erfunden hat. Wenn sie Milosevic für alles verantwortlich machen, dann machen sie ihn auch verantwortlich dafür, dass er die Kriege für ein Groß-Serbien verloren hat.

Wenn die revolutionäre Trance vorbei ist, werden sich die Serben mit Kriegsverbrechen und anderen Scheußlichkeiten, die in ihrem Namen begangen wurden, auseinandersetzen müssen. Die Befehlskette, die zu diesen Verbrechen führte, von Milosevic bis hin zu den letzten betrunkenen Paramilitärs - die brandschatzten, vergewaltigten und bosnische Dörfer plünderten -, wird leicht zu rekonstruieren sein.

Sehr viel schwieriger wird es sein, das beharrliche Schweigen und Leugnen von so vielen "normalen" Leuten zu erklären, die nichts mit diesem Thema zu tun haben wollten, bevor der Krieg im letzten Jahr Hand an ihre eigenen Haushalte legte. Und selbst dann waren viele nicht in der Lage, eine Beziehung zwischen den Nato-Bomben und den ethnischen Säuberungen im Kosovo zu sehen. Das sind komplexe und schwierige Themen. Unglücklicherweise können sie nicht in Den Haag oder vor irgendeinem anderen Gerichtshof gelöst werden: genauso wie die Fragen nach individueller Schuld oder nach kollektiver Verantwortung nur durch eine gründliche und geduldige Debatte beantwortet werden können, die zu einer Art nationaler Katharsis führen.

Meine Tochter wurde gezeugt während der Belagerung von Vukovar, geboren im Jahr des Bosnien-Krieges, und sie ist in dem Jahr eingeschult worden, als es im Kosovo zu kochen begann. Wenn sie eines Tages alt genug ist, um zu fragen, wie und warum all diese schrecklichen Dinge möglich waren, wird sie eine ehrliche Antwort erwarten.

Der Autor ist Journalist aus Belgrad. Der englisch

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false