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Kultur: Madi lebt hier nicht mehr

In manchen Gegenden der Welt bedeutet Kindheit gar nichts. Nichts unterscheidet sie von dem, was anderswo erst später kommt: statt Spiel kennen die Kinder nur Arbeit, statt Verwöhntwerden Ausgebeutetsein, statt Freizeit Strapazen und Krankheit, statt Lachen nur den tiefen Ernst, mit dem das Leben eines Tages das meiste beantwortet.

In manchen Gegenden der Welt bedeutet Kindheit gar nichts. Nichts unterscheidet sie von dem, was anderswo erst später kommt: statt Spiel kennen die Kinder nur Arbeit, statt Verwöhntwerden Ausgebeutetsein, statt Freizeit Strapazen und Krankheit, statt Lachen nur den tiefen Ernst, mit dem das Leben eines Tages das meiste beantwortet. Nur eines erinnert sie in diesen Weltgegenden an ihr einstweiliges Anderssein: Sie sind kleiner als die traurigen Großen. Aber das heißt nur, dass sie an denselben Lasten schwerer tragen.

Madi ist sehr, sehr klein. Madi ist die leichteste Last der Welt. Er kann nichts tragen, sondern muss selber getragen werden wie ein Baby - ein Bündel Mensch und doch fünfzehn Jahre alt. Madi ist der älteste Bruder von fünf Geschwistern, und wenn er nicht bald operiert wird, muss er sterben. Er hat nichts als seine Geschwister, die sich mitten in aller Alltagsmühsal als Markthelfer und anderweitige Lastenträger fast zärtlich um ihn kümmern. Weil er ihr hilfloser Bruder ist, natürlich - und vielleicht auch, weil sie in ihm ihre eigene Krüppel gebliebene Kindheit ahnen.

Wir sind in Baneh, im staatenlosen Land Kurdistan, an der iranisch-irakischen Grenze. Die Leute leben vom Schmuggelgut, das sie über die Berge und über Stacheldrahtsperren bringen in jenes andere Land, in dem auch Kurdisch gesprochen wird. Sie schmuggeln riesige Traktorreifen auf dem Rücken von Maultieren. Kinder besitzen keine Maultiere - also machen sie sich selbst zum Packesel, schmuggeln Pakete auf eigenem Rücken. Manchmal geht eine Mine hoch, aus dem iranisch-irakischen Krieg noch. Dann krepieren die Maultiere im Gebirge, und tote Menschen werden auf anderen Maultieren ins Dorf getragen.

Madis und Ayubs und Amenehs und Rojines und Kolsums Vater ist so ein Toter, eines Tages. Und weil die Mutter vor Jahren schon im Kindbett gestorben ist, sind die fünf Geschwister jetzt allein. Das heißt, es gibt noch einen Onkel, aber was, wenn der selber zehn Kinder hat? Also will Ayub das Geld für Madis Operation verdienen, und dafür wird er schmuggeln gehen. Nur dass die Großen ihn um seinen Lohn betrügen. Also will Rojine einen aus dem Irak heiraten, sofern dessen Sippe sich auch um Madi kümmert, aber die Familie des Bräutigams kauft sich mit einem Maultier von der Bedingung frei. Also wird Ayub mit dem auf den eigenen Rücken geschnallten Madi und zwei auf das Maultier geschnallten Traktorreifen über die Grenze gehen. Er wird die Reifen und das Maultier drüben verkaufen und von dem Geld Madi retten. So funktioniert die Logik des Überlebens, Schritt für Schritt. Alles ist Ware, bis auf die Liebe. Und so ist der Plan.

Eine Passionsgeschichte ohne Gott hat der iranische Kurde Bahman Ghobadi gefilmt, die Ayub-Passion. Ayub nimmt die ganze Last der Welt auf sich: Es ist Winter und Schneetreiben, und die mit Schnaps besoffen gemachten Maultiere taumeln in die Berge, den Minen und Soldaten in ihren Hinterhalten entgegen, und die ganze Last der Welt ist ein uraltes Kind. Fast wortlos, fast ohne Musik zeigt Ghobadi diesen Leidensweg, liest mit der Kamera in den Kindergesichtern, die nicht klagen, in denen nur manchmal, fern von Leuten, Tränen schimmern. Dann wieder sucht die Kamera nach anderen Lebenszeichen, nach Auswegen aus diesem Gefängnis unterm hohen, leeren Himmel, in dem die Schmuggler leben. Und findet immer wieder nur ihre Karawanen, die Ameisenstraßen, das Schwarze überm Schnee, das sich da langsam voranbewegt, das Schwarze, das sie selber sind.

Ob Ayubs Plan aufgeht, am Ende dieses leisen, großen Films? Es gibt Anzeichen, dass nicht. Aber keine Beweise. Der Film trennt sich klug aus seinen Bildern von einer Sekunde zur nächsten, so klug wie er an seinem Anfang nur Stimmen in der Schwärze klingen lässt: Jemand fragt, wie das Leben hier geht, und ein Kind antwortet. Unsere Vorstellung entsteht, und es bleibt doch kein Rest. Am Ende aber muss eine Undeutlichkeit sein. Mit anderen Worten: eine Hoffnung. Es gibt nichts als sie. Jan Schulz-Ojala

Die sperrige Tafel auf den Rücken geschnallt, unrasiert, staubverkrustet und selbst kaum größer als die Kinder, mit denen er unterwegs ist: So präsentierte sich Bahman Ghobadi westlichen Zuschauern letztes Jahr in Cannes. In Samira Makhmalbafs preisgekröntem Film "Die schwarze Tafel" spielte er einen Wanderlehrer, der im iranischen Kurdistan halbwüchsigen Schmugglern das Lesen und Schreiben beibringt. Präsenz zeigte der kurdische Iraner Ghobadi auf dem Festival auch mit "Zeit der trunkenen Pferde". Als sein eigener Regisseur trat er adrett und rasiert auf - und gewann den Preis für das beste Erstlingswerk.

Beide Filme dokumentieren den Überlebenskampf kurdischer Kinder im iranisch-irakischen Grenzgebiet. Ghobadi, der auf dem Set der Teheranerin Makhmalbaf auch als kurdischer Berater fungierte, hatte damals seinen eigenen Film bereits abgedreht: "Ich bat sie vergeblich, die eine oder andere Szene herauszunehmen, damit es nicht zu viele Ähnlichkeiten mit meinem Film gab. Aber Schmuggel ist in Kurdistan eben alltäglich." Ghobadi selbst, 1969 in dem kurdischen Dorf Baneh geboren, in dem auch "Zeit der trunkenen Pferde" spielt, musste als Kind zwar nicht schmuggeln. Ähnlich aber wie sein 12-jähriger Protagonist Ayub sorgte auch er für seine jüngeren Geschwister: "Ich habe viel durchgemacht. Aber vielen kurdischen Kindern geht es ebenso."

Schon als Jugendlicher entdeckte Ghobadi die Liebe zum Kino. 1993 wurde er an der Filmhochschule in Teheran angenommen. Viel gelernt hat er dort nicht, sagt Ghobadi; lieber setzte er seine Energie in die Praxis um. 34 Kurzfilme drehte er bis heute, neun davon als Filmstudent, und erhielt dafür zahlreiche Preise. Wie viele seiner Kurzfilme beruht "Zeit der trunkenen Pferde" auf realen Begebenheiten, so etwa die titelstiftende Geschichte. Im Winter werden die Maultiere der Schmuggler, die ihre Ware über die Grenze in den Irak transportieren, betrunken gemacht, damit sie die Anstrengungen in der Kälte besser ertragen. Grausame Details wollte Ghobadi den Zuschauern aber ersparen: "Wenn die Grenzposten auf Maultiere stoßen, die Alkohol transportieren, verbrennen sie die Tiere einfach. Viele der Schmugglerkinder sind auch drogenabhängig."

Die Aufklärung über Kurdistan ist dem jungen Filmemacher ein brennendes Anliegen. Er zeigte dies etwa, als er mit dem iranischen Regiestar Abbas Kiarostami "Der Wind wird uns tragen" 1999 in einem kurdischen Dorf drehte. Ghobadi arbeitete für ihn als "kurdisches Lexikon", wie er es nennt, und als Regie-Assistent. Einen künstlerischen Einfluss des Meisters aber sieht er nicht: "Kiarostami ist ein großes Vorbild, aber mein Film unterscheidet sich doch sehr."

Der Stil des bis heute einzigen kurdisch-iranischen Regisseurs kommt beim heimischen Publikum an. "Zeit der trunkenen Pferde", der keinerlei Probleme mit der Zensur hatte, wurde sogar zum iranischen "Oscar"-Kandidaten 2001. Die erste Vorführung war den jungen Laiendarstellern und den Bewohnern des Bergdorfs vorbehalten. Dazu gehörte auch der kleinwüchsige, behinderte Junge Madi, der eine Schlüsselrolle im Film einnimmt. "Er ist krank,", sagt Ghobadi, "aber er hat noch zwei, drei Jahre vor sich, nicht sechs Monate wie im Film. Vielleicht kann ihn ein Schweizer Team operieren".

Geschichten über Kurdistan will Ghobadi auch künftig zu seinem Thema machen - so lange, bis auch andere Filmemacher aus diesem Gebiet kommen." Ob der Regisseur vielleicht im Herzen ein Wanderlehrer ist - gerade so wie jener, den er in Samira Makmalbafs Film spielte? Kira Taszman

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