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Kultur: Männer mit Fliege sind lyrisch veranlagt

Durchschauer und Durchdrungene, winzige Würsteletten und der DB-Aufsichtsratsvorsitzende begrüßen den Lenz: Uwe Fenners Salon ist der Renner der SaisonVON ERIK GRAWERT-MAY FRÜHLINGSANFANG.In seiner gewagten Wohnung (6 Zimmer, Altbau, hergerichtet wie ein Schlößchen aus dem 18.

Durchschauer und Durchdrungene, winzige Würsteletten und der DB-Aufsichtsratsvorsitzende begrüßen den Lenz: Uwe Fenners Salon ist der Renner der SaisonVON ERIK GRAWERT-MAY FRÜHLINGSANFANG.In seiner gewagten Wohnung (6 Zimmer, Altbau, hergerichtet wie ein Schlößchen aus dem 18.Jahrhundert) begrüßt Uwe Fenner über hundert Gäste.Ein Bouquet gelber Tulpen empfängt den Besucher und stimmt auf Frühling ein.Nunmehr zum 12.Mal, jeweils zu Beginn einer neuen Jahreszeit, versammelt der Hausherr einen Kreis möglichst freisinnig denkender Leute mit unterschiedlicher Weltanschauung.Das nennt er Jahreszeitengespräche.Auswahlprinzip: Entscheider der Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Politik.Sein Programm: sich unterhalten, sich amüsieren, Ideen austauschen, Kontakte knüpfen - auch geschäftliche - und dabei gut essen.Nie war ein Buffet mit kleineren Würstchen zu sehen.Das waren nicht Würstchen, das waren Würstli oder Würsteletten.Wie alles Putzige übten sie magische Anziehungskraft aus.Man aß sie dem Nachbarn glatt vom Teller.Allein das lohnte den Weg.Aber der Kartoffelsalat: zu süß! Wegen der Mayonaise.Behauptete die Psychologin Heide Dürr.In ihrer schwäbischen Heimat werde ein anderer, nicht so verzärtelter Kartoffelsalat gemacht.Herber.Auf keinen Fall so süß wie der.Heide Dürr ist eine witzige, spritzige Person.Ihr Mann Heinz war an diesem Abend als Aufsichtsratsvorsitzender geladen.20 Minuten, nicht mehr, sollte er über den Standort Deutschland am Beispiel der Deutschen Bahn AG sprechen.Manches, was er in seinem kurzen Vortrag sagte, wurde erst im Nachhinein verständlich, durch die herzerfrischend-schalkhaften Thesen seiner Frau, deren Zeuge man im Danebenstehen zufällig werden konnte. Männer mit Fliege, behauptete Heide Dürr und wies unauffällig auf einen Fliege tragenden Gast, seien in der Regel lyrisch veranlagt.Sie habe das an einer Reihe von Fällen beobachtet.Hier mochte sie Recht haben.Gleichwohl gab es unter den anwesenden Schlipsträgern einige, deren feinsinnige Züge auf eine mehr als lyrische Kultur der Lebensführung schließen ließen.Ihr Schlips schien nur dazu geknotet, diese Kultur zu konterkarrieren.Heinz Dürr selbst muß die These kennen.Als wohl einziger der Gäste kam er gänzlich ohne - schwarzer Anzug, schwarzes Hend, schwarze Schuhe: keine Fliege, kein Garnichts.Modern gekleidet, mit einfachem Schick, wie ein Künstler oder Designer entschlüpfte er dem Beurteilungsraster der Gattin. Man könnte auch sagen, daß Heinz Dürr sich an diesem Abend weder auf das eine noch das andere festlegen lassen wollte.Durch den Verzicht auf Schlips und Fliege durfte er, ohne gleich von seiner Frau erkannt zu werden, in beiden Bereichen wildern: im Prosaischen und im Lyrischen.So lobte der Aufsichtsratsvorsitzende in seinem Vortrag mit Recht den Beitrag der Bahnreform zur Verbesserung des Standorts Deutschland und beklagte ebenso berechtigt die gespaltene Situation: einerseits klettert der Dax über Fünf Tausend Punkte, andererseits berührt die Zahl der Arbeitslosen die psychologisch gefährliche Marke von Fünf Millionen.Deutschland brauche keine Modernisierung, obwohl mit diesem Schlagwort womöglich im September ein erdrutschartiger Wahlsieg errungen werde; Deutschland, soeben wieder zum Exportweltmeister avanciert, brauche eine andere Mentalität. Bis zur Erörterung der Mentalität entsprach Dürrs Vortrag dem Eindruck, den man von ihm als öffentlicher Person aus den Medien gewohnt ist: sachlich, klar.Danach wurde es, wenn nicht lyrisch, so doch fast poetisch.Dürr sprach von seinen beiden bevorzugten Schriftstellern: offenbar Thomas Mann (der Name war nicht richtig zu verstehn) und Botho Strauss.Dort der alte, klassisch gewordene Prosaist der ersten Jahrhunderthälfte, hier der neue Theaterdichter, dessen Wort von den "Kraftbringern der Gesellschaft" Dürr eigens zitierte: Kraftbringer seien diejenigen - nur auf wenige treffe das zu -, die von einer Sache durchdrungen sind.Die meisten Menschen seien Durchschauer.Wir brauchten für den Standort Deutschland, so der Aufsichtsratsvorsitzende, nicht diese, sondern jene: nicht die Durchschauer, sondern die Durchdrungenen.Er selber stellte sich als einen solchen, den Botho Strausschen Typus dar.Er wäre nie zur Bahn gegangen, hieß es später dann noch im unterhaltsamen small talk, wenn er alles von vornherein durchschaut hätte. "Zukunft baut auf Herkunft" - das war nach dem ersten Höreindruck das Motto, dem Dürr bei seinem Vortrag folgte, quasi seine Unternehmensphilosophie: sich nicht dem kurzfristigen Shareholder-Value-Prinzip überantworten, sondern längerfristig denken, damit man die Standortfrage nicht auf Kostensenkungsprobleme reduziert.Dann stellte sich freilich heraus, daß Dürr weder von Thomas Mann, noch von "Zukunft baut auf Herkunft" gesprochen hatte.Statt Thomas Mann meinte er Thomas Bernhard.Der alte Prosaist und Goethenachfolger fiel aus dem Rennen, dafür trat mit Bernhard ein zweiter Theaterdichter der Gegenwart neben Botho Strauss.Solche Vorliebe für moderne Poeten überrascht nur den, der die großen Wirtschaftsführer der Gegenwart für konservativ-fortschrittliche Schlipsträger hält.Daher das falsche Hinhören beim Motto.Es hieß nicht "Zukunft baut auf Herkunft", sondern radikaler: "Zukunft baut Herkunft". Ein alternder Eisenbahnnarr und durchdrungener Schloßbewunderer, der die Sache noch nicht durchschaut hatte, wollte von Dürr allen Ernstes ein Bekenntnis zum Wiederaufbau des Potsdamer Stadtschlosses.Schließlich habe einst beim Bau der Strecke Potsdam-Magdeburg Friedrich Wilhelm IV.erlaubt, daß die Gleise hart am Lustgarten des Schlosses entlangführten.Als historische Wiedergutmachung könnte doch jetzt die Deutsche Bahn AG durch ein entsprechendes Sponsoring den Wiederaufbau fördern.Dürr ließ sich seine gute Laune nicht verderben und wies das Ansinnen nach kurzer Überlegung amüsant amüsiert zurück.Gar nicht poetisch kommentierte er nur, in schönstem Schwäbisch, da entstünden doch "Koschten". Uwe Fenner, Seele des Salons, hat mit seinen Jahreszeitengesprächen eine schöne Berliner Tradition originell wiederbelebt.Als Causeur und Consulter von Rang verfügt er über Kontakte.600 Gäste stehen auf seiner Liste, viele fragen vor Beginn der nächsten Jahreszeit, ob sie wieder eingeladen werden.Vielleicht entwickelt sich das Ganze einmal so, daß, wer nicht eingeladen wird, für diesen Tag Berlin verläßt, um die Schmach zu verwinden.Der Lenz kommt mit Fenner pünktlich, sein Friedenauer Salon ist der Renner der Saison.

ERIK GRAWERT-MAY

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