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Kultur: Magische Momente

Rainer Moritz über schöne Buchmessenerlebnisse Allmählich gelingt es mir wieder, zusammenhängende Sätze zu formulieren. Meine diversen Erkältungskrankheiten klingen ab, und die heftige Phobie gegen das gedruckte Wort in jeder Form lässt nach.

Rainer Moritz über schöne Buchmessenerlebnisse

Allmählich gelingt es mir wieder, zusammenhängende Sätze zu formulieren. Meine diversen Erkältungskrankheiten klingen ab, und die heftige Phobie gegen das gedruckte Wort in jeder Form lässt nach. Ja, keine Frage, diese Kolumne ist eine Kolumne der PostBuchmessenära. Eine Woche liegt das Frankfurter Schaulaufen nun hinter mir, und meine Wiedermenschwerdung scheint nicht mehr ausgeschlossen. Doch welche permanenten Anstrengungen hatte ich zu durchleiden! Pausenlos musste ich auf der Hut sein, potenziellen Autoren aus dem Weg gehen, musste ich unverschuldet Nächte in Hotellobbys verbringen, wo es eine halbe Stunde dauert, bis man für 8,50 Euro ein Glas gewöhnlichen Rotweins in Händen hält, ehe man von einem sturzbetrunkenen Agenten in den Rücken gestoßen wird, so dass sich der Rebensaft auf das kleine Weiße jener attraktiven Verlagsfrau ergießt, die man gerade ansprechen will.

Zusammenstöße mit Fremden

Eine Woche geht das so. Gewiss, gewiss, mögen Sie sagen: Niemand hat mich genötigt, Bücher zu verlegen und deshalb Gott und der Welt schön zu tun. Doch eine Woche ist lang, vor allem, wenn es darum geht, über die „Krise“ des Buchmarktes zu sinnieren und gleichzeitig wie Gerhard Schröder ein hoffnungsvolles Gesicht zu machen. Auch die Spuren des eigenen Verfalls sind alsbald wahrzunehmen: Früher hat mir übermäßiger Nikotin- und Alkoholkonsum nichts ausgemacht. Drückende Schuhe, fahle Haut, geschwollene Füße – das war mir damals fremd, genau so wie diese Vergesslichkeit, diese Ratlosigkeit, wenn völlig unbekannte Menschen strahlend das Wort an mich richten und so tun, als hätten wir in einem früheren Leben alles Mögliche geteilt.

Freilich, eine Buchmesse hat auch erfreuliche Seiten, und gerade eine Montagskolumne soll ja das Positive herausstreichen. Am Messedonnerstag zum Beispiel habe ich meine Studienfreundin Andrea wiedergetroffen, nach Jahren gemeinsamen Schweigens. Jene Andrea, die heute in Stuttgart wohnt, zwei Kinder hat und mit der ich einst im Proseminar „Werther“ las. Und mit der ich in einer Tübinger Altbauwohnung gegen meine Neigung Tee aus braunen Tonschalen trank und in Rottweil den Truffaut-Film „Der Mann, der die Frauen liebte“ sah.

Blickkontakt mit Bohlen

Auch andere Menschen haben während einer Buchmesse überraschende Begegnungen. Frau Professor Rautenberg etwa, die renommierte Buchwissenschaftlerin aus Erlangen, berichtete mir in sichtlicher Erregung, auf der Rolltreppe Dieter Bohlen, dem Erneuerer autobiografischer Prosa, begegnet zu sein. Dort hätten sich ihre Blicke mit seinen für Sekundenbruchteile gekreuzt, was ihr, der seriösen Gelehrten, einen „magischen Moment“ beschert habe. Mit dieser Epiphanie einer fränkischen Hochschullehrerin kann ich nicht konkurrieren. Mein größtes Frankfurt-Glück stellte sich am Mittwoch ein, beim „Appointment“ mit Pierluigi Collina. Collina? Ja, Sie lesen richtig, der Finanzberater aus Italien, der in den letzten Jahren zum überragenden Fußball-Schiedsrichter aufstieg und deshalb auch das WM-Endspiel der Völler-Mannen gegen Brasilien pfeifen durfte. Signor Collina ( www.pierluigicollina.it ), das ist der barhäuptige Rächer mit den stechenden Augen, dem keine Unsportlichkeit entgeht, der keine Scheu kennt, Übeltäter ihrer gerechten Strafe zuzuführen, der durch sein Auftreten das naturgemäß bescheidene Ansehen des Unparteiischen an sich in ungeahnte Höhen führte und der die Frauenwelt („Der schwitzt so schön“) nachhaltig zu beeindrucken versteht.

Am Stand des Mondadori Verlags hielt Collina Hof, um mit interessierten ausländischen Verlegern über sein im Frühjahr ’03 erscheinendes Buch zu parlieren. „The Rules of the Game“, so symbolhaltig wird Collinas Debüt heißen, und es dürfte nicht an Verlagen mangeln, die dieses philosophische Werk weltweit herausbringen wollen. Bei Mondadori herrschte ein Auflauf wie im Cottbuser Strafraum; die ausländischen Verleger gaben sich die Klinke in die Hand, und auch mir blieb nur ein Viertelstündchen, ehe mich Collinas Verlagsbetreuerin mit einem energischen „The Russians are coming“ aufscheuchte. Gerechtigkeit, sagt Aristoteles, sei die höchste aller Tugenden, und allein deshalb braucht die Welt Pierluigi Collinas Buch. Ich werde alles dafür tun, verdanke ich dem Mann aus Viareggio doch mein schönstes Messeerlebnis und das kurzfristige Vergessen aller anderen Schmach (siehe oben). „Vergesst Kluivert, Maldini und sogar Beckham“, schrieb die englische Zeitung „The Sun“ über ihn – dem ist nichts hinzuzufügen.

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