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© Cinetext

Maigret: Pantoffelheld und Schicksalsflicker

Der Kommissar, der die Ruhe bewahrte: Auch 36 Jahre nach dem letzten Maigret-Band sind die Krimis von Georges Simenon noch populär. Jetzt werden sie neu herausgegeben.

Es ist ein trüber, nasskalter Februarmorgen des Jahres 1931, als Kommissar Jules Maigret eine ungewöhnliche Einladung auf den Tisch flattert: „Georges Simenon gibt sich die Ehre, Sie zu einem anthropometrischen Ball einzuladen, der anlässlich des Starts seiner KriminalromanReihe in der Boule Blanche stattfinden wird.“ Maigret folgt der Einladung nicht, erfährt aber aus den Zeitungen, dass der Ball in einem Nachtclub in Montparnasse ein rauschendes Fest war und „Kommissar Maigret soeben einen lärmenden Einzug in die Kriminalroman-Literatur gehalten hatte“.

Der Witz ist gut: 1950, in „Maigrets Memoiren“, lässt Simenon seinen Kommissar und den Romanschriftsteller Simenon aufeinandertreffen. Maigret erzählt, wie Simenon ihn aufsucht und befragt, und er erzählt, wie er wurde, was er ist. Naturgemäß gehen bei dieser Figurenkonstellation Fiktion und Wirklichkeit zwanglos ineinander über.

Kurz nach dem Ball jedenfalls, den es 1931 tatsächlich gegeben und den Simenon anstelle einer herkömmlichen Marketingkampagne ersonnen hatte, erscheinen die ersten zwei Maigret-Romane in Frankreich, „Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet“ und „Maigret und der Gehängte von Saint Pholien“. Der Autor und sein Geschöpf treten ihren Siegeszug um die Welt an: Die Bücher erreichen Millionenauflagen, werden mit verschiedenen Maigret-Darstellern verfilmt und sind bis heute populär, 36 Jahre nach Simenons letztem Maigret-Roman „Maigret und Monsieur Charles“.

Gerade bringt der Diogenes Verlag die 75 Maigret-Romane in einer neu durchgesehenen Übersetzung heraus, vier pro Monat, in chronologischer Reihenfolge, kartoniert mit Lesebändchen. Allerdings ist nicht gesagt, ob diese Ausgabe einmal als schönste in die Geschichte der Maigret-Editionen eingehen wird. Die einen schwören auf die KiWi-Ausgabe aus den fünfziger Jahren, andere auf die vom Heyne Verlag aus den Sechzigern, wieder andere auf jene von Diogenes mit dem Maigret-Schädel als Silhouette vor gelbem Hintergrund aus den siebziger und achtziger Jahren.

Der Erfolg, das stets sich wieder neu einstellende Hochgefühl bei der Maigret-Lektüre, hat mit beiden zu tun, mit dem Autor und seiner Figur, mit dem Sprachgefühl des einen und dem Charakter des anderen. Mit jenem Simenon, der auch für seine über hundert sogenannten Non-Maigret-Romane nie länger als elf Tage brauchte und den Maigret-Band „Maigret und der Spion“ in sagenhaften 25 Stunden niederschrieb.

Simenon nannte seine Maigrets mitunter „halben Schund“. Doch geschah das aus Distanzierungsgründen ebenso wie aus Koketterie. Frei von ambitioniert literarischen Verdichtungszwängen beschreibt er das Leben in seiner ganzen Größe und Kleinheit, Kompliziertheit und Lächerlichkeit, Schönheit und Tristesse: „Der Tag hatte strahlend begonnen, köstlich wie eine Kindheitserinnerung“, lautet der erste Satz eines typischen Maigret-Bandes. In einem anderen wird die Bar als Rückzugsort für einen Tatverdächtigen beschrieben: „Es war eine Welt mit verwischten Konturen, ein Durcheinander aufgescheuchter Ameisen, körperloser Schatten, wo nichts von Belang war oder einem bestimmten Zweck diente, wo der Weg kein Ziel hatte, wo man diesen ohne Mühe zurücklegte, aber auch ohne Freude und ohne Trauer, in einen Nebel, der sich nie verzog. In diese Welt hatte James, der Mann mit dem kahlen Clownsschädel und der schleppenden Stimme, Maigret unmerklich hineingezogen.“

Der breitschultrige, schwergewichtige Maigret mit seiner ewigen Pfeife, dem ewigen Überzieher und der ewigen Madame Maigret an seiner Seite ist der ruhende Pol in diesem unruhigen Menschengewimmel, für alle diese problematisch verlaufenden, abgründigen Schicksale. Maigret ist laut Simenon ein „Schicksalsflicker“. Er kennt keine Schuldigen, nur Opfer, ob tot oder lebendig und der Tat verdächtig. Und er nimmt sympathisierend Anteil, egal wer vor ihm steht. Wiewohl ihm die kleinen Verbrecher und braven Kleinbürger näher sind als die Großkopferten, in deren Milieu er sich auffällig unwohl fühlt.

Was auch mit seiner Herkunft als Sohn eines Schlossverwalters zu tun hat. Als er acht Jahre alt ist, stirbt seine Mutter im Kindbett, er bleibt Einzelkind. Der kleine Jules wächst beim Vater und den Großeltern auf, nach einem abgebrochenen Medizinstudium in Nantes landet er bei der Pariser Polizei, wo er sich von der Pike auf zum Kommissar hocharbeitet. Er kennt weder Empfindlichkeit noch Härte, weder Hass noch Mitleid. Stellvertretend befindet er für seine Kollegen: „Wir befassen uns mit Menschen. Wir beobachten ihr Verhalten. Wir registrieren Tatsachen und versuchen immer noch mehr Tatsachen festzustellen.“

Maigret beobachtet unablässig, oft mürrisch, ohne viele Worte. Zu Anfang seiner Untersuchungen geht er nie nach Plan vor, sondern wartet ab und macht es sich dann „in seiner Untersuchung wie in Pantoffeln bequem“: behaglich, ohne Hast, durch schiere Präsenz. Diese Behaglichkeit empfindet auch der Leser, wenn er einen der Romane in einem Zug liest und gleich noch den nächsten. Maigret vermittelt Ruhe und Ausgeglichenheit, selbst wenn ihn Kindheitserinnerungen erschüttern wie etwa in der „Affäre Saint Fiacre“. Darin muss er den Mord an der Besitzerin jenes Schlosses aufklären, auf dem sein Vater Verwalter war. Sein ständiger Durst, seine Freude am Essen, seine Wetterfühligkeit machen ihn sympathisch, wobei das Wetter in den Krimis eine größere Rolle spielt als die Zeitumstände: die unruhigen dreißiger Jahre, der Zweite Weltkrieg, die Nachkriegszeit, die sechziger Jahre, sie alle erklingen oft nur als fernes Echo.

Dadurch bekommen die Maigrets aber auch etwas Universelles. Maigret fungiert als Gegenmodell zu all dem Scheitern, all der Getriebenheit um ihn herum: seine Festigkeit, sein Gleichmut, seine Bescheidenheit, seine stille Freude über das bescheidene häusliche Glück am Boulevard Richard-Lenoir und über das Pensionär-Kleingärtner-Glück im Alterswohnsitz in Meung-sur-Loire.

Maigret stillt die Sehnsucht nach einem übersichtlichen, geordneten, beschaulichen Leben. Er übt damit eine Anziehungskraft aus, der sich nicht zuletzt auch George Simenon kaum widersetzen konnte. Denn dessen glamouröses Weltenbummlerleben und die legendären zehntausend Frauen, mit denen Simenon geschlafen haben will, stehen dazu in einem krassen Gegensatz. In „Maigrets Memoiren“ bedeutet Maigret seinem Erfinder Simenon: „Wissen Sie, dass Sie in den letzten Jahren angefangen haben, auf die gleiche Art zu gehen, die Pfeife zu rauchen, ja sogar zu sprechen wie Ihr Maigret?“ Simenon, stellt Maigret erstaunt fest, habe „nach all den Jahren begonnen, sich für mich zu halten“.

Auch als Simenon keine Romane mehr schrieb und nur noch Tonbänder mit Notizen und Erinnerungen besprach, begegnet Maigret ihm wieder, in seinen Träumen, im Halbschlaf: „Obwohl er mir nur die Rückansicht bot, konnte ich von ihm eine Ruhe ausströmen fühlen, um die ich ihn beneidete.“ Es half alles nichts, nicht die vielen Non-Maigrets, nicht einmal, dass er die Schriftstellerei aufgab. Simenon, der am 4. September 1989 starb, wäre gern gewesen wie Kommissar Jules Maigret. Es ist ihm nicht gelungen.

Die revidierte Reihe kostet pro Band 9 Euro und erscheint bei Diogenes, Zürich.

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