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Kultur: Majestät Zufall

Karin Sanders „Gebrauchsbilder“ bei Nordenhake

Am Anfang ist jede Leinwand weiß. Unberührt, unschuldig und für manchen unerträglich. Selbst von bedeutenden Surrealisten ist zu lesen, dass sie erst losmalen konnten, nachdem eine Fliege einen Fleck auf dem reinen Weiß hinterlassen hatte und so der erste Schritt getan war. Auch auf den „Gebrauchsbildern“ von Karin Sander hinterlassen Insekten Spuren. Ebenso wie Katzen, Schweine und Spinnen. Wobei die Flecken, Risse und Fusseln bei ihr nicht als Inspiration für den Bildentwurf dienen. Vielmehr sind sie Teil des vor 15 Jahren begonnen Projekts der „Gebrauchsbilder“. Seitdem verkauft die 1957 geborene Professorin an der Berliner Kunsthochschule Weißensee weiße Leinwände. Der Käufer unterzeichnet einen Vertrag, in dem er zusichert, dem Bild eine Patina zu verschaffen. Dann wählt er den Standort für die Leinwand und legt den Zeitraum fest, den sie dort verbringen soll. Außerdem verpflichtet er sich, das Bild zukünftigen Ausstellungen der Patina-Bilder zur Verfügung zu stellen. Die Preise richten sich nach der Größe, eine 24 mal 30 Zentimeter große Leinwand kostet 7200 Euro. Das Projekt ist auf 100 Leinwände limitiert, rund 30 sind noch zu haben.

Und während man schon die Lacher aus Yasmina Rezas Komödie „Kunst“ im Ohr hat, dem gefeierten Theaterstück, in dem drei Männer um weiße Bilder streiten, steht man staunend in der Berliner Galerie Nordenhake, wo erstmals seit Beginn des Projektes mehr als 40 der Patina-Bilder zusammen hängen. Ein Geflecht feiner Linien ziert die Leinwand, die drei Tage mit dem „Seefuchs“ auf dem Meer verbrachte. Eine andere fristete ihr Dasein in einem Kohlenkeller, wo der Staub wolkige Strukturen malte. Eine wurde im Briefkasten vergessen, während „Linus Essplatz“ davon zeugt, dass hier jemand noch übt und zudem keinen Spinat mag, eine andere darf seit 2002 in einem Sportwagen mitfahren, der gleich mit im Ausstellungsraum steht. Und auch wenn sich der Besucher manches Mal an die All-Over-Paintings von Jackson Pollock erinnert fühlt oder eine Horizontlinie zu sehen glaubt – die Leinwände sind nicht mehr als das, was sie sind. Zeit und Orte haben sich in diese Bilder hineingeschrieben, wobei es der Künstlerin hier weniger um Spurensicherung geht, sondern ähnlich wie bei ihren anderen Projekten eher um Fragen nach Autorenschaft, künstlerischer Handschrift und Werkautonomie.

So liegt auch der Wiedererkennungswert bei Karin Sander nicht im einzelnen Werk, sondern in der Haltung der Künstlerin. Ob sie aus ebenfalls auf 100 Exemplare limitierten „Bodyscans“ dreidimensionale Porträts fertigen lässt oder ein schnödes Hühnerei so lange poliert, bis daraus eine fragile Kostbarkeit wird – stets holt sie ans Tageslicht, was vorher schon vorhanden, aber nicht sichtbar war. Der Zufall bleibt ihr, wie schon den Surrealisten, dabei ein Weggefährte.

Galerie Nordenhake, Zimmerstraße 88–91, bis 26. Februar; Dienstag bis Sonnabend 11–18 Uhr.

Katrin Wittneven

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