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Malerei: El Greco - Die Droge wirkt

400 Jahre nach seinem Tod erscheint El Greco weiter modern. Spanien führt ihn nun in Brüssel als Botschafter Europas ein.

Wer noch nicht seekrank ist, der wird es nun. Wem die Augen noch nicht übergegangen sind, dem werden sie sich alsbald im Kreise drehen. Der letzte Saal setzt an zum visuellen Schleudergang: Farben, Figuren, Formen beginnen zu rotieren, saugen den Betrachter ein und speien ihn am Ausstellungsende wieder aus. Mit heiliger Ekstase hat das nichts zu tun, auch wenn auf den 13 Gemälden Jesus und seine Jünger zu sehen sind. Die Bildersprache verschlägt hier den Atem. Und das, obwohl die Porträts vor 400 Jahren entstanden sind, zwischen 1610 und 1614, dem Todesjahr des Malers.

Das „Apostoledo“, die Serie mit Christus und den zwölf Heiligen – sechs schauen nach links, sechs nach rechts zu Jesus am Kopfende des Ausstellungssaales hin –, ist ein Höhepunkt von El Grecos Kunst, ein Delirium, ein Rausch, der auch im 21. Jahrhundert noch nicht verflogen ist. Diese Droge wirkt ungemindert fort. Im vergangenen Jahrhundert bedröhnten sich die Expressionisten daran, später Francis Bacon. Heute bedient sich Daniel Richter ihrer. Von El Grecos „Allegorie der Heilige Liga“ mit schwefelgelbem Grund, himmlischem Engelsgetümmel, ewiger Verdammnis im aufgerissenen Schlund eines Ungeheuers sind die heutigen Großstadt-Tableaus des Hamburger Malerstars nicht weit entfernt. Der Wahn, das Fictionhafte des Manieristen erscheinen weiterhin modern.

Doch diesen Kultstatus für Künstler und fürs Publikum besitzt Domenikos Theotokopoulos, wie der kurzerhand El Greco genannte Maler griechischer Herkunft mit vollem Namen heißt, erst seit hundert Jahren. Die Geschichte seiner Wiederentdeckung und Würdigung erzählt nun eine Ausstellung im Museum der Schönen Künste in Brüssel. Der Grund liegt auf der Hand: Spanien will sich aus Anlass seiner Präsidentschaft des Europarates nicht nur politisch, sondern auch kulturell in der EU-Hauptstadt angemessen präsentieren.

Was liegt da näher, als einen großen Europäer als künstlerischen Botschafter vorzustellen? 1541 auf Kreta geboren, wo er die Ikonenmalerei erlernt, siedelt der Künstler 1567 nach Venedig um, unter dessen Verwaltung damals die griechische Insel stand. Drei Jahre später wandert er weiter nach Rom, wo er bis 1576 bleibt. Von dort zieht es ihn nach Spanien. Die Hoffnung auf eine Berufung an den Hof Philipps II. bleibt jedoch unerfüllt. Endgültig lässt sich der Maler in Toledo nieder, wo er die Klöster mit Heiligenbildern, die Honorablen der Stadt mit Porträts versieht und im Alter von 73 Jahren verstirbt.

Mit seinem Tod ist auch das Zeitalter des Manierismus vorüber; Caravaggio und das Chiaroscuro, die naturalistische Malerei, avancieren zum neuen internationalen Trend. El Grecos Kunst wird prompt diffamiert, als lächerlich und geschmacklos dargestellt und gerät in Vergessenheit. Als 1838 im Louvre die Galerie für spanische Malerei eröffnet, dürfen Murillo, Velázquez, Ribera, Zurbarán als die Granden rein, El Greco muss draußen bleiben. Das ändert sich erst 1902, als der Prado den Exzentriker ausgräbt und ihm eine erste Einzelausstellung widmet. Acht Jahre später eröffnet in Toledo das El-Greco-Museum. Der Sprung zu den Top Ten auf dem Weltmarkt lässt nicht lange auf sich warten.

Aus dem El-Greco-Museum, das gerade renoviert wird und seine Bilder deshalb auf Reisen schickt (mit Brüssel als einziger europäischer Station), stammt der Großteil der nun im Museum der Schönen Künste gezeigten rund vierzig Werke. Der Prado, das Patrimonio Nacional gaben zusätzliche Leihgaben her. Aus Toledo wurde auch die großartige Apostel-Serie importiert, die das dramatische Finale der Brüsseler Ausstellung setzt: Wie deformiert schauen die Gesichter der Heiligen aus dem Dunkel heraus, ihre Kreuz, Kelch oder Heilige Schrift haltenden Hände erscheinen flattrig, nervös, die in groben Falten drapierten Gewänder züngeln in lichterlohen Farben, als ob sie brennen würden. Nicht fromme Andacht ist vor diesen Bildern möglich, beruhigender Beistand von ihnen kaum zu erfahren. Vielmehr bricht sich die Furcht vor dem Fegefeuer Bahn.

So muss es auch Julius Meier-Graefe ergangen sein, als er im Prado auf den Maler stieß. „Greco aber kommt wie der Blitz“, schreibt der Kunstschriftsteller in seiner „Spanischen Reise“, die vor genau hundert Jahren erschien und heute als Klassiker der modernen Reiseliteratur gilt. Die Begegnung mit seiner Malerei schlug bei ihm unerwartet ein: „Ich habe einen Menschen gefunden, einen großen über alle Begriffe genialen Menschen,“ formuliert Meier-Graefe, noch ganz in seinem Bann. „Ein Mann aus der Gegend Rembrandts und so nahe wie ein Zeitgenosse.“ Meier-Graefe, Herold der Expressionisten, hatte in El Greco für seine Helden der Gegenwart die historische Bezugsgröße gefunden. All die Ekstase, das innere Glühen hatte er schon zuvor auf die Leinwand gebracht, das nun Meidner, Macke, Marc, Beckmann erneut erlebten.

El Greco kann als bestes Beispiel dafür stehen, wie die Umstände einer Zeit, die veränderten ästhetischen Bedingungen und geschmacklichen Prägungen das Verständnis für einen Maler lenken. In seiner eigenen Zeit galt El Greco zwar als Ausnahmeerscheinung – und doch war auch er geprägt von ihr. In seiner Kunst, ihrer schrittweisen Entwicklung lässt sich genau studieren, woher er kam, was er jeweils von seinen Lebensstationen mitnahm. Von seinen Anfängen als traditioneller Ikonenmaler noch im Zeitalter des Byzantinischen Reiches ist heute nur ein Bild bekannt: Mariä Himmelfahrt in einer Kirche auf Syros. Das Statuarische, die Flächigkeit steckt auch noch im kleinen Abendmahl von 1567–68. Ein Jahr später, bei der „Anbetung der Heiligen Drei Könige“ hat El Greco in Venedig bereits seine erste Lektion gelernt und stößt vor in die Tiefe des Raumes, hüllt seine Protagonisten in voluminöse Gewänder. Farbe wird zum wichtigen Akteur, Tizians Nähe macht sich bemerkbar. Das glühende Rot, das kalte Blau, das fahle Gelb werden zu Ausdrucksträgern.

Hier in Venedig sollte El Greco auch erfahren, wie eine florierende Werkstatt funktioniert. Das Modell führte er später in Spanien ein, ebenso die Leinwand anstelle verleimter Bretter. Als Werkstattmeister schuf er die erste Version eines Bildes: etwa seines überaus erfolgreichen Heiligen Franziskus, der bei ihm nicht mit den Tieren parliert, sondern über einem Totenschädel meditiert. Schüler und Mitarbeiter fertigten davon Kopien an, Radierungen sorgten werbeträchtig für weitere Verbreitung. In Rom schaut sich El Greco bei Michelangelo, dessen Skulpturen er bewundert, die Monumentalität und Körperlichkeit ab.

Fragt man sich, was der Künstler aus Spanien übernahm, so ist es eher umgekehrt. Am Ende seiner Reise durch Europa rezipiert er weniger die Malerei vor Ort. Stattdessen amalgamiert er hier die Einflüsse aus Griechenland und Italien zu seinem ganz eigenen Stil. In der Folgezeit wird vielmehr er es sein, der die spanische Schule prägt durch die starke Dominanz der Farbe gegenüber der Linie, die Klarheit der Komposition, die reduzierte Palette. Allerdings sollten noch Jahrhunderte vergehen, bis man sah, was Vélazquez, Goya, ja selbst Tàpies und Saura dem eingewanderten Griechen zu verdanken hatten.

Mag sein, dass die Spanier El Greco mit dieser Ausstellung am Ende allzu sehr für sich reklamieren und weniger in ihm den Europäer sehen, als der er eigentlich nach Brüssel ins Musée des Beaux-Arts entsendet wurde. Doch in diesem Konflikt zeigt sich nur nochmals die Krux der Europäischen Union. Wie viel Gemeinsamkeit, wie viel Eigenheit erlaubt sich jeder? Auch für den Künstler gilt nicht das Ego allein. Er richtet sich nach Markt und Nachfrage. Die zahlreichen Versionen von Christus am Kreuz aus El Grecos Werkstatt zeugen davon. Sein melodramatischer Christus war damals ein Hit. Nur von seiner eigenen Hand ist in Brüssel leider keiner dabei.

Brüssel, Musée des Beaux-Arts, bis 9. 5.

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