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Malerin Natascha Ungeheuer im Willy-Brandt-Haus: Hymnen auf das Leben

Erst hat sie getanzt, dann geschrieben. Doch das war nicht präzise genug. Seit 50 Jahren malt Natascha Ungeheuer. Gegen das Vergessen, nicht für Geld. Ihr Bilderkosmos ist jetzt im Willy-Brandt-Haus zu sehen.

„Nehmen Sie sich nur ein oder zwei Bilder vor, sonst ist es zu viel“, rät Natascha Ungeheuer. 50 Ölgemälde der Kreuzberger Malerin sind derzeit im Willy-Brandt-Haus zu sehen. Wer sie aufgrund dieser umfassenden und seltenen Werkschau treffen möchte, den fragt sie: „Mögen Sie die Bilder überhaupt?“, bevor sie eine Einladung ausspricht. Ob sie sich öffnet oder nicht, entscheidet sich ohnehin erst, wenn sie das Gesicht ihres Gegenübers sieht. Sie sei scheu, sagen Menschen, die sie kennen. Aber das trifft es nicht. Natascha Ungeheuer ist ein Mensch, in den jede Begegnung hineinschwappt wie eine Welle. Gesichter, Gesten und Sätze durchspülen ihr System, setzen sich in ihr ab, wie Sediment am Meeresboden. Deshalb malt sie seit 50 Jahren. Was hineinfließt, muss auch wieder hinaus.

Zur Ausstellungseröffnung sind 500 Gäste gekommen. Natascha Ungeheuer steht bei solchen Gelegenheiten am liebsten hinten, unterhält sich mit Gästen, die zufällig neben ihr stehen oder mit der Frau an der Garderobe, und sie verschwindet gern ohne Abschiedsgruß und wann es ihr passt. Seit den sechziger Jahren wohnt sie in Kreuzberg. Derzeit in der Nähe des Oranienplatzes, im Seitenflügel, zweiter Stock. Kleine Wohnungstür, man steht sofort in der Küche. Von dort führt eine rosa gestrichene Tür in den Raum, in dem sie schläft, liest und malt. Ein Berliner Zimmer. Die Staffelei steht im Licht gegenüber dem Fenster. Weil die Ölgemälde jetzt in der Ausstellung sind, hat sie Reproduktionen an die Wände gepinnt. Seit Jahren arbeitet sie nicht mit Galerien, obwohl sie es könnte. Sie verkauft ihre Bilder nur, wenn sie muss.

In jedem Bild finden sich unzählige Geschichten

Die Künstlerin hat Kaffee gemacht. Es stört sie, dass der Deckel der Kanne fehlt. Eine neue will sie trotzdem nicht. „Ich finde die Leute auf der Straße spannender, deshalb gehe ich selten in Geschäfte und kaufe kaum ein“, sagt sie. Sie trägt ein gelbes Hemd, darunter blitzt ein lila Pullover hervor, die rötlichen Haare sind mit einem Pinsel hochgesteckt. „Ich hatte meistens wenig Geld. Und ich habe nie darunter gelitten. Dinge, die man mit Geld machen kann, haben mich nie interessiert. Ich ziehe an, was da ist. Manchmal erschrecke ich, wenn ich mich unterwegs zufällig im Spiegel sehe.“ Dabei sieht sie gut aus. Eine zarte Person, keinesfalls zu übersehen.

Ihre Besucher bleiben oft lange vor einem Bild stehen, treten ganz nah heran. Sie sind überwältigt von den Farben und den unzähligen Geschichten, die in einem einzigen Bild stattfinden. Das Gemälde über dem Esstisch heißt „Schlüsselkinds 6 Uhr Traum“. Ein Flugzeug fliegt durchs Essen, Frauen und Männer sitzen an einer üppig gedeckten Tafel, manche kippen nach hinten um, andere tun, als wäre nichts, ein winziges Liebespaar liegt zwischen Papier.

„Ich lege mich aufs Bett und halte mir die Hände vor die Augen. Ich mache Skizzen. 50 oder 100 Stück. Ich will die schnellen Gedanken festhalten. Irgendwann kommt ein Thema.“ Dann ist sie selbst gespannt auf das, was auf die Leinwand will. Sie malt zwei bis drei Monate an einem Bild. Mit feinen Pinseln arbeitet sie ihre Ideen aus. Ist ein Bild fertig, stellt sie sofort eine neue Leinwand auf die Staffelei. Auch jetzt steht eine dort.

Natascha Ungeheuer wird 1937 im schwäbischen Blumenfeld geboren. Sie macht Abitur, studiert Lehramt, geht dann zum Tanzstudium nach Bern. 1962 zieht sie nach Berlin und tanzt bei Mary Wigman. Sie hat Talent. Es gelingt ihr, Erlebtes und Gefühle in Bewegung umzusetzen. Außerdem schreibt sie. Ohne Stift und Notizzettel geht sie nicht aus dem Haus. Sie streift durch Berlin und schaut sich Gesichter an, beobachtet, wie Menschen miteinander umgehen, sie registriert Freude, Eifersucht, Ärger, Lust und Bosheit. Nichts lässt sie kalt. Alles muss durch sie hindurch und wieder hinaus. Nur sind die Worte nicht präzise genug. Eines Tages zeichnet sie eine Szene auf ein Blatt Papier. Nach zwei Tagen ist das Blatt immer noch gut. Es wird sogar immer besser, es beginnt zu sprechen. „Malen ist ein Werkzeug gegen das Vergessen“, sagt sie. Sie will sich an alles erinnern.

Symbole spielen in ihrer Malerei eine wichtige Rolle.

Ein Kritiker hat ihre Malerei einmal als „fleißig“ bezeichnet. Für die Künstlerin ist das eine Beleidigung. Natascha Ungeheuer ist süchtig nach Details. Was andere Maler vergrößern, um es zu verstehen, ist bei ihr winzig klein und trotzdem voller Bedeutung. Symbole spielen in ihrer Malerei eine wichtige Rolle: Äpfel, Fische, Hähne, Trauben, Uhren, Spiegel und beschriebene Blätter liegen üppig auf Tischen und krönen die Köpfe von Menschen. „Wenn ich einen Apfel male, und sei er noch so klein, stell’ ich ihn mir vor. Ich male den Apfel, als wäre ich blind. Ich nutze keine Vorlagen oder Fotos.“ Genauso verhält es sich mit den Gesichtern. In „Schlüsselkinds 6 Uhr Traum“ tauchen 18 Gesichter auf, wenn man die der Tiere nicht mitzählt. Und jedes ist anders.

Ihr Gedächtnis sei nicht besonders, sagt sie, immer öfter reiße ihr der Faden. Sie hat Panik vor dem Vergessen, gerade weil sie sich so gut erinnert. Die Kindheit im Schwarzwald, wo sie als Lehrerstochter zwischen Bauernhöfen aufwächst. Wie sie zum Abitur mit dem Zug nach Stuttgart fährt und beschließt, ihr Leben ab jetzt selbst in die Hand zu nehmen. Wie ihr das Tanzen nichts mehr gibt, sobald sie Choreografien von anderen tanzen soll. Und wie ihr der junge Dichter Johannes Schenk 1964 in einer Kreuzberger Kneipe begegnet. Ihre große Liebe, ihr Seelenfreund, mit dem sie zeitweise im Zirkuswagen wohnt und bis zu seinem Tod im Jahr 2006 eine Beziehung führt, ohne zu heiraten und ohne Kinder.

1969 gründet Johannes Schenk das Kreuzberger Straßentheater, er schreibt Dramolette, Natascha bastelt Masken, sie spielen umsonst und beflügeln die linke Szene. Das schillernde Paar übt Anziehung aus, weil es so unkorrumpierbar ist. Ob Sozialdemokraten oder Kommunisten, sie lassen sich für keine Idee in Dienst nehmen. Ob in ihren Bildern Politik eine Rolle spielt? „Ja“, sagt Ungeheuer. Aber Politik funktioniert für sie vor allem von Mensch zu Mensch. Als die Flüchtlinge auf dem Oranienplatz kampierten, brachte sie selbst gebackenen Kuchen vorbei. Das Blech gab sie dem Mann mit dem angenehmsten Gesicht. Und wenn sie von der Frau erzählt, die sich tagelang auf einem Baum verbarrikadierte, von der Silberfolie um deren Beine, den Polizisten am Boden, den Westen tragenden Straßenfegern, dann ist das, als würde man in eins ihrer Bilder eintauchen. Jedes ist eine Hymne auf das Leben, das schön sein kann und schrecklich.

Willy-Brandt-Haus, Wilhelmstr. 140, Kreuzberg, bis 22. Oktober, Di-So 12-18 Uhr.

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