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Kultur: Mambo!

Gustavo Dudamel elektrisiert die Waldbühne

Der Schauer dauert drei Minuten. Kaum dass die Berliner Philharmoniker ihre Instrumente zur La-Ola-Welle hochreißen, kaum dass Gustavo Dudamel, der vollblutjunge Pultstar aus Venezuela, aufs Podium tritt, beschließt das Himmelsgrau den Rückzug. „Ritmos de la Noche“ stehen auf dem Programm des restlos ausverkauften Saisonabschlusskonzerts der Philharmoniker, mit dem Peter Schwenkows DEAG zugleich ihren 30. Geburtstag feiert (siehe S. 11). Bei so einer Latin Party wird es dem Regengott über der Waldbühne einfach zu heiß.

Der Dirigent als Eintänzer, Wirbelwind, Löwenbändiger. Im September tritt Dudamel wieder mit seinem Simón Bolívar Jugendorchester in der Philharmonie auf, jetzt zuckt es den Berlinern in Schultern und Hüften. Der 27-Jährige tänzelt, stampft, springt, wirbelt, reißt mit und elektrisiert die Waldbühne. Mit de Falla, Villa-Lobos und unbekannteren lateinamerikanischen oder spanischen Klängen, der Musik seiner Jugend. Der Abend dürfte als das fetzigste Pultdebüt in die Geschichte des Orchesters eingehen; im nächsten Frühjahr gibt Dudamel auch seinen Saal-Einstand, mit Rachmaninow, Strawinsky und Prokofjew.

Gute Idee, beim Klassik-Picknick der 20 000 – Block C, Reihe 10, ergötzt sich an den köstlichen Buletten von Tante Irene, weiter oben blitzen die obligatorischen weißen Tischdecken auf den Steinbalustraden, im Rasenrund campen die Liebespärchen – gute Idee, beim traditionellen Berliner Kultsommerabend weniger in Klang zu baden, als energische Rhythmen vorzugeben. Beim spektakulären Abbado-Konzert am 24. Mai, mit dem die Freiluftsaison wegen des Philharmonie-Brands vorzeitig Eröffnung feierte, ließen sich die akustischen Tücken der Open-Air-Bühne nur schwer ignorieren. Diesmal ist alles glasklar und von blitzblanker Präsenz. Die Philharmoniker machen dem Publikum Beine, mit scharf gewürzten Synkopen, rasanten Triolen, vertrackten Takt- und Tempowechseln.

Südamerika trifft Asien. Gleich zu Beginn lädt Carlos Chávez’ „Sinfonía india“ zum Karneval der Kulturen. Wimmelmusik, Marktgeschrei, Straßentanz, Partymeile – Aggregatzustände des Geselligen. Ob Silvestre Revueltas ekstatischer „Sensemaya“-Bolero, ob die in taumelnde, Exaltation mündende Slowmotion-Symphonie einer Großstadt bei Alberto Ginastera oder der Samba-Elan von Arturo Márquez: Wieselflink mischt Dudamel den Flair des BuenaVista Social Club mit Flamenco mit Big Band mit Karneval in Rio und Herzschmerz con brio.

Die Melancholie kommt auch nicht zu kurz. Ana María Martínez’ hypnotisches Vibrato windet Spinnwebgirlanden in die Dämmerung. Eine Waldfee, deren glutvolle Stimme zaubert und schaudern macht, bei Manuel de Fallas spanischen Volksliedern genauso wie bei Villa-Lobos’ „Bachiana Brasileira Nr. 5“, diesem Verführungskunststück für Sopran und acht Celli. Und bei Márquez badet das Klagelied der Soloklarinette im Wunderkerzenmeer. Friert hier jemand? Gustavo Dudamel tanzt fröhlich weiter, einen Tango als Zugabe, und zuletzt – Achtung, alle: Mambo! Was liegt nicht alles in der Berliner Luft. Christiane Peitz

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