zum Hauptinhalt

Kultur: Mamma mia

Hans Neuenfels inszeniert den „Ödipus“ am Deutschen Theater Berlin

Welches Lebewesen geht am Morgen auf vier, am Mittag auf zwei und am Abend auf drei Beinen? Der Mensch. Er krabbelt, dann geht er aufrecht, schließlich am Stock. Das Rätsel der Sphinx war für Ödipus zu leicht zu lösen – und auch nur das verführerische Vorspiel zur Tragödie seiner eigenen blutig-blutschänderischen Verstrickung. Hier beginnt die Neuzeit. Seit Sophokles, seit 2500 Jahren, sind Schuld und Bühne, Psyche und Analyse nicht voneinander mehr zu trennen.

Das ist, auch schon seit langem, das Thema des Hans Neuenfels: die heillose Verwirrung des Menschen im Verbotenen. Im Verleugneten. Da ist der Regisseur nun so kühn, dem Griechendrama, das hier in der klassisch zu nennenden deutschen Übertragung von Ernst Buschor ertönt, dem zerstörten Helden Ödipus einen eigenen Schlusssatz hinzuzudichten: „Keinen Millimeter meines Unglücks möchte ich missen“.

Lassen wir die Frage einmal dahingestellt, ob man damals in Athen mit Millimetern gemessen hat. Das Unglück dieser Neuenfels-Inszenierung am Deutschen Theater Berlin ist jedenfalls sehr viel größer. Es bemisst sich eher in Fuß und Stadien.

Es beginnt damit, dass Neuenfels sich den Sophokles heranzoomt, dabei aber, sagen wir, vor hundert Jahren stehen- und stecken bleibt. Die Ausstattung (Bühne: Karl Kneidl, Kostüme: Elina Schnizler) suggeriert eine mittelgroßbürgerliche Innenwelt, später Ibsen etwa, und da darf dann auch mal das Telefon klingeln. Ist das Schicksal dran? Oder falsch verbunden? Der Grundgestus der Aufführung – laut und aufgeregt, verdächtig-hektisch vom ersten Moment – erinnert an Salonschlachten und Puppenheime. Eine jede Figur meint etwas, das größer ist als sie selbst, die fahrigen Gänge, die wilden Schreie, die Blicke aus weit aufgerissenen Augen zielen ins Ungefähre, Leere, Bedeutungsvolle. Manches möchte man da missen – um nicht am Theater zu verzweifeln und an dem, was Neuenfels uns einmal war: ein toller Inszenator, von dem man lernen konnte.

Jetzt: Holt er für die Rolle des blinden Sehers Tiresias einen Gast, den Schauspieler Edgar M. Böhlke aus Frankfurt. Als gäbe es im Ensemble des Deutschen Theaters keine sechzigjährigen männlichen Darsteller. Im übrigen nimmt es Neuenfels nicht so genau. Den guten, unglücklichen Hirten, der Ödipus am Ende die Augen öffnet, eigentlich ein alter Mann, besetzt er mit einem jungen Ringer im Schafspelz (Ronald Zehrfeld). Und er führt die wunderbare Berliner Schauspielerin Margit Bendokat, die nun mal ihr eigenes lokaltypisches Idiom hat, als Amme und Chorsprecherin regelrecht vor.

Kein Zufall, denn die Not setzt sich in den Hauptrollen fort. Ingo Hülsmann, wieder scharf wie ein Klappmesser und in seiner stoischen Ruhe bärenstark, spielt nicht etwa den Ödipus, sondern Kreon, den majestätisch-eiskalten Schwager. Während Sven Lehmann alles Königliche abgeht: Sein Ödipus ist nur Sohn, nur hypernervös, nur schuldig, nur klein vor der großen, entsetzlichen Prophezeiung, die sich erfüllen muss. Elisabeth Trissenaar, natürlich, ist Iokaste, Gemahlin des eigenen Sohns. Auch sie: mehr nervös als wahnsinnig, ständig am Zupfen und Machen und Barmen, als ginge es darum, den Ödipus-Komplex herbeizubeten.

Das ganz spezielle Element dieses Antiken-Projekts aber liegt auf der visuellen Ebene. Bendedikt Neuenfels, der Sohn des Regisseurs und der Trissenaar, liefert in ausgiebigen Einspielungen (zum Teil mit anderen Darstellern) den stummfilmischen Kommentar zum Bühnengeschehen. Und den tiefenpsychologischen Clou. Im Neuenfels’schen Anti-Ödipus will der alte Laios seinem Sohn an die Wäsche. So war das also: eine Kinderschändergeschichte. Ödipus wiederum bietet sich dem vermeintlich Fremden an der Weggabelung wie ein Strichjunge an, bevor er den Vatermord begeht. Nachher beschmiert er sich das Geschlecht mit dem Blut des alten Wüstlings.

Eine Sphinx, wer Schlechtes dabei denkt. Neuenfels’ dreibeiniger „Ödipus“ sieht aus wie schlecht kopierter Pasolini (der ja einen „Edipe re“ gedreht hat) und lässt an den deutschen Schwärmer Wilhelm von Gloeden denken, der Ende des 19. Jahrhunderts in Süditalien nackte Epheben in bukolisch-schwülen Arrangements fotografierte. Nach zweidreiviertel Stunden: unerlöst, erlöst, endlich.

Wieder am 3. und am 8. November.

Rüdiger Schaper

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false