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Kultur: Manifeste feiern

Die andere Seite des Kinos: Zum 50. Jubiläum der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen

Whoosh: einmal tief Luft geholt und der Freundin ins Gesicht gespuckt. Eine rüde Form der Annäherung. Aber was tun, wenn man 15 ist, in einem schäbigen Londoner Vorort wohnt und zum ersten Mal verliebt ist? Duane Hopkins Kurzfilm „Love Me or Leave Me Alone“ spielt alles durch, den ersten Streit, das Schmollen, den Trotz, und am Ende eine vorsichtige Versöhnung. Das Leben in 15 Minuten – was will man mehr?

Es ist nicht der einzige Film zum Thema: Auch Lola Randls „Nachmittagsprogramm“ erzählt von einer ersten Sommerliebe. Gut, die Bushaltestellen im bayerischen Hinterland mögen sauberer sein als die in London, das Wetter ist auch schöner. Aber langweilig ist es hier wie dort, und mindestens so schwierig, das richtige Wort, die richtige Geste zu finden in einem Alter, in dem alles so kompliziert ist. Und, das Gleiche noch einmal, von weiter weg: Taika Waitits „Two Cars, One Night“ aus Neuseeland, ausgezeichnet mit dem Preis der Kinderjury, zeigt, wie sich zwei Zahnjährige zusammenraufen, während sie auf einem Parkplatz auf ihre Eltern warten. Auch der Stinkefinger kann ein Freundschaftszeichen sein.

Ein Zufall, dass es gerade diese kleinen, klar erzählten Geschichten von erster Liebe sind, die von den 50. Internationalen Kurzfilmtagen in Oberhausen nachhaltig in Erinnerung bleiben? Dabei hatte Festivalleiter Lars Henrik Gass zu Beginn des ältesten Kurzfilmfestivals der Welt doch in bewegenden Worten für den Kurzfilm als Ort des Abseitigen geworben, als „alternative Variante zur bestehenden Wirklichkeit“: für alles, was auch noch Kino sein kann jenseits der gefälligen Abendunterhaltung. Das Festival als exklusiver Ort gesellschaftlicher Kommunikation, als Versammlung denkfreudiger Freaks, Theoretiker, Idealisten, Träumer und Abenteurer. Ein Branchentreff, eine Insiderveranstaltung, aber eine schöne.

Es bleibt ihm ja auch nichts anderes übrig, zu einer Zeit, in der der Kurzfilm aus den Kinos und dem Fernsehen längst verschwunden ist. Was jedoch keineswegs heißt, dass er damit tot sei: Um 40 Prozent ist die Summe der eingereichten Filme in den letzten drei Jahren gestiegen, so Festivalleiter Gass, im Jubiläumsjahr übersteigt sie erstmals die Zahl 5000. 95 Beiträge aus 55 Ländern sind für die beiden Wettbewerbsreihen ausgewählt worden. Und noch ein Erfolgskriterium, auf das Bundeskanzler Gerhard Schröder bei der Eröffnung hinwies: Immer häufiger sind deutsche Kurzfilme in den letzten Jahren für den Oscar nominiert worden, allein in diesem Jahr waren es zwei. Kein Wunder, dass Lars Henrik Gass optimistisch ist: „Es ist offenbar für das Überleben des Kurzfilms nicht relevant, dass die Märkte für ihn versiegen.“

Und er bekommt Recht, zumindest was sein Publikum angeht: Das folgt mit Begeisterung Rainer Komers stillen, klug choreografierten Bildern aus dem Norden Alaskas („Nome Road System“) oder Thomas Köners „Banlieue du vide“, der zu spröden Elektroklängen schwarz-weiß verwischte Bilder einer Überwachungskamera übereinanderblendet, die eine einsame Landstraße im Schnee zeigen. Es lacht über Jan Verbeeks Wetten-dass-verdächtige Fünfminutenaufnahme aus der U-Bahn in Tokio („On a Wednesday Night in Tokyo“) oder den Mini-Zeichentrickfilm „Water on Mars“ von Horst Da Luz. Und war selbst noch geduldig, wenn in einem Programmblock mehrmals hintereinander nicht viel mehr zu finden war als seichtes Kunsthandwerk, simple Selbstbefragung oder unscharfe Innenwelten.

Auch wenn sich der Jubiläumsjahrgang nicht von seiner besten Seite zeigt: Wer in Oberhausen die einfachen Antworten sucht, den schnellen Spaß, wird nicht bedient. Das Festival solle „kein Wohlfühlfestival“ sein, hat Gass im Vorfeld betont, und selbst da, wo sie etwas zu feiern hätten, nämlich das 50. Jubiläum dieses nach Berlin wichtigsten und bekanntesten deutschen Filmfests, geben sie sich spröde. So bei der Eröffnung im spektakulären, über 100 Meter hohen Gasometer, wo der Verweis auf die legendäre Geschichte mit Oberhausener Manifest und 68er-Eklat dem überlassen blieb, der bestimmt noch nie im Leben auf dem Filmfest war: dem Bundeskanzler. Gass hat schon Recht, wenn er betont, dass zwar alle Oberhausen kennen, kaum jemand jedoch das Festival wirklich verfolgt hat.

Misstrauen gegenüber dem Mythos

Sie machen es einem aber auch nicht leicht: Da wäre ein rundes Jubiläum zu feiern, und keine der Größen des damals jungen deutschen Films ist gekommen, nicht Wenders, nicht Kluge oder Herzog. Einzig Festivalgründer Hilmar Hoffmann lässt sich feiern, und natürlich darf der gebürtige Oberhausener Christoph Schlingensief nicht fehlen, der gerade bei den Ruhrfestspielen probt. Aber Glamour ist nicht angesagt in Oberhausen, und es ist jene konzentrierte, aber auch strenge Arbeitsatmosphäre, die zu den Filmen passt. Feiern, das geht schon, bis in den frühen Morgen, im Stadtbad, zu Klängen von FM Einheit, aber am nächsten Morgen sind sie alle wieder da: müde, aber bereit für die nächsten fünfzig Filme.

Das Misstrauen gegenüber Glanz und Verklärung zeigt sich auch im Umgang mit dem eigenen Mythos. Natürlich gibt es eine umfangreiche, in 17 Blöcke geteilte Retrospektive, die die ehemalige Festivalleiterin Angela Haardt zusammengestellt hat. Und natürlich laufen sie dort, die Klassiker, die Oberhausen berühmt machten, Alain Resnais’ „Nacht und Nebel“ zum Beispiel, die frühen Filme von Polanski, Kieslowski, Alexander Kluges Vergangenheitsbefragungen, das andere Deutschland eines Jürgen Böttcher oder Volker Koepp und die Kurzfilme von Agnes Varda, Chantal Akerman, Marguerite Duras. Allein: Sie laufen eher nebenbei, und viele andere fehlen. Hellmuth Costards „Besonders Wertvoll“ zum Beispiel, ein sprechender Penis, der 1968 zum Skandal führte. Die Retrospektive erzählt, so ihr Titel, „eine andere Geschichte“ als die filmhistorisch kanonisierte.

Das gilt vor allem für die Vorstellung, Oberhausen, das mitten im Kalten Krieg die „Wege zum Nachbarn“ jenseits des Eisernen Vorhangs suchte, sei ein eminent politisches Festival. Spätestens mit dem Fall der Mauer stand hier eine Neudefinition an, die Lars Henrik Gass mit einer radikalen Öffnung versuchte: Seit 1999 gibt es einen Preis für das beste Musikvideo, und auch sonst ist von Super-8 über Beta, 16- und 32-Millimeter, Video und Digitalfilm alles zugelassen, vorausgesetzt, es liegt unter 45 Minuten. Der Preis dafür: oftmals Beliebigkeit.

Explizit politisch sind die Filme nur noch selten, und dann sind es nicht die besten: So dokumentiert Marjoleine Boonstra in „Britanya“ das Leben im Flüchtlingslager Sangatte am Eingang des Eurotunnels. Hannes Gieseler belauscht in „Barbershop Politics“ die Gespräche in einem Frisörsalon in Kashmir: seichte Momentaufnahmen ohne analytische Kraft. Und die EU-Osterweiterung, das große Thema der ersten Maitage, findet sich weder im Filmprogramm noch im Festival wieder – angesichts der ruhmreichen Geschichte des Festivals ein arges Versäumnis.

So hält man sich am Ende doch am guten, alten Erzählkino fest. Ein Rückzugsort, wie die Bushaltestelle in „Love Me or Leave Me Alone“, eine Zuflucht inmitten einer überkomplexen (Film-)Welt. Und doch immer noch das eindringlichste Plädoyer für ein anderes, richtiges Leben im falschen. Andrea Arnolds mit dem mit 10000 Euro höchstdotierten Festivalpreis, dem Kulturpreis Nordrhein-Westfalen, ausgezeichnetes Sozialdrama „Wasp“ war der Film des Festivals: Die Geschichte einer alleinerziehenden Mutter (furios: Natalie Press), die trotz ihrer vier Kinder noch einmal jung sein möchte, sich noch einmal verlieben, noch einen Flirt, einen Abend in Freiheit. Britisches Sozialkino der schönsten Art, und eben deshalb auch sehr politisch.

Christina Tilmann

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