zum Hauptinhalt
Marianne Faithfull braucht im Konzert Sitzpausen, aber ihr Gesang ist mitreißend.

© dpa

Marianne Faithfull gibt Konzert in Berlin: Risse, Brüche und Sprünge von Swinging London

Marianne Faithfull muss sich bei ihrem Konzert im Berliner Tempodrom zwischendurch hinsetzen und auch mal auf ihr Textpult schauen, der Auftritt der Sängerin ist dennoch beeindruckend.

Vorsichtig setzt sich Marianne Faithfull in einen barocken Stuhl mit hoher Rückenlehne, atmet tief durch und stößt einen trotzigen Seufzer aus: „Oh well …“, sagt sie mit dunklen Furchen in der Stimme. Kurze Besinnungspause. Ja, es sehe alles schlimmer aus, als es sei. Tatsächlich war es eine kleine Schrecksekunde, als die 67-jährige Diva zum ruhigen Piano-Entree ins Licht trat: sehr langsam, wackelig, massiv und zerbrechlich zugleich. Gestützt auf einen edlen Gehstock arbeitet sie sich nach vorne an den Bühnenrand, breitet die Arme aus und lächelt in den orkanartigen Empfangsjubel aus dem gut gefüllten Tempodrom.

Sehr elegant und würdevoll im lockeren schwarzen Hosenanzug erzählt sie von ihrer besonderen Beziehung zu Berlin. Wo sich einst ihre Eltern kennengelernt hatten, und wo sie sich deswegen auch immer etwas unruhig und getrieben fühle – glücklich und traurig zugleich. Womit sie eine schöne, bittersüße Stimmung setzt, die dann den ganzen Abend durchzieht. Mit einer tief beeindruckenden Stimme, wie wilder Honig mit einer herben Note.

Faithfull singt eine berauschende Version von "Broken English"

Der folkfröhlich klingende Song „Give My Love To London“, eine Kollaboration mit dem Singer/Songwriter Steve Earle vom gelungenen neuen Album, ist eine sarkastische Liebeserklärung an die Stadt, in der Faithfull vor ziemlich genau 50 Jahren als bildschönes 17-jähriges Mädchen mit sternenklarem Sopran eine beeindruckende musikalische Karriere begann. London war aber auch die Stadt, in der ihr Stern eine Weile etwas tiefer stand, während eines Lebens auf der Straße, zwischen Heroin und Obdachlosigkeit. Lebenserfahrungen, die ihr Timbre haben nachdunkeln lassen, zum eindringlicheren Alt, dieser exorbitanten Stimme, in der heute alle Risse, Brüche und Sprünge eines außerordentlichen Lebens vom Swinging London der 60er bis heute hör- und fühlbar werden. So auch im gemeinsam mit Anna Calvi geschriebenen neuen Song „Falling Back“ mit wunderbarer Dynamik. Oder einer berauschenden Version von „Broken English“, dem Meisterstück vom gleichnamigen Album, mit dem Faithfull 1979 ein triumphales Comeback nach ihrem Abtauchen in die Drogenszene gelang.

Nach einem Sturz musste sie kürzlich an der Hüfte operiert werden

Jetzt müsse sie sich erst mal wieder hinsetzen, sagt die Sängerin. Aber nein, es sehe nur schlimm aus, wirklich. Im letzten Jahr hatte sie sich bei einem Sturz vierfach das Kreuzbein gebrochen, erst kürzlich wurde sie nach einem weiteren Sturz an der Hüfte operiert. Aber es werde allmählich besser, beteuert sie, krachend lachend. Man staunt trotzdem, wie sie unter diesen Umständen so viel tiefes Gefühl in ihren Ausdruck legen kann. Es gibt ihr sichtlich Sicherheit, dass sie sich mit ihrem betörend kräckelnden Gesang jederzeit voller Vertrauen in den luftigen Klang ihrer exquisiten Begleitmusiker betten kann.

Die klaren tiefen Basslinien des ehemaligen Morrissey-Begleiters Jonny Bridgwood, die festen Akzente des langjährigen Faithfull-Produzenten und Drummers Rob Ellis, die stimmungsvoll variierenden Piano- und Orgelklänge von Ed Harcourt. Sowie die changierenden Farben des wunderbaren Gitarristen Rob McVey, der im steten Wechsel zwischen akustischer Gitarre, Dobro und Gibson ES-335 lässige Akkorde aus dem Handgelenk schüttelt und schärfere Riffs aus der Hüfte leiert. Und der mit seinem dunklen Anzug, dünnem Schlips und Mod-Cut aussieht wie der ganz junge Eric Clapton zu Yarbirds-Zeiten.

As Tears Go By

Ein wenig wie die Yardbirds in den 60er Jahren klingt dann tatsächlich auch „The Price Of Love“ der Everly Brothers: knackender Rhythm and Blues zu prächtig bluesheulender Harmonica von Ed Harcourt. Marianne Faithfull hält ihre Brille in der linken Hand, setzt sie ab und zu mal auf zwischendrin, wirft einen kurzen konzentrierten Blick auf ihr Textpult, lächelt und singt eine ganz außerordentliche Version von Daniel Lanois’ „Marathon Kiss“, dessen Refrain in langsamem Sechsachtel auf zauberhafte Weise das Auditorium durchrieselt. Ihren großen Hit von 1965 „As Tears Go By“, den ersten Song, den Mick Jagger und Keith Richards gemeinsam geschrieben haben, singt Faithfull neuerdings wieder im ursprünglichen, schnelleren Tempo, nachdem sie ihn jahrelang eher getragen interpretiert hatte.

„Sister Morphine“ hat ein neues Arrangement, einen neuen Groove und ein umwerfend schwirrend kreischendes Gitarrensolo. Es folgen noch einige brillante Akzente mit Hits wie „The Ballad Of Lucy Jordan“ und dem eher obskuren, doch fabelhaften Song „The Last Song“ als letzte Zugabe. Zwei wirklich grandiose Stunden.

Zur Startseite