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Marie Marcks mit Retrospektive geehrt: Und Papa schmeißt den Kinderladen

Grande Dame der politischen Karikatur: Marie Marcks wird zum 80. Geburtstag mit einer Retrospektive geehrt

„Von Kinderhänden an, da viel Anregung und Papier und Stifte im Elternhaus, gekritzelt. Da weiter nichts Rechtes gelernt, aus dem Gekritzel meinen Beruf gemacht“, hat Marie Marcks über sich selbst gesagt. Und wie alles, was sie zu sagen pflegt, tat sie es nicht mit Worten, sondern in Form einer Zeichnung. Ihr gestricheltes Selbstporträt zeigt sie mit einer Nase, so lang wie die von Pinocchio, und kurzen, widerspenstigen Haaren. Solches understatement ist typisch für die bekannteste politische Karikaturistin Deutschlands, die es als einzige Frau geschafft hat, sich in einer von Männern dominierten Branche durchzusetzen. „Zu Anfang war ich ein bunter Vogel und wurde nett behandelt. Die Männer waren verwundert, dass eine Frau politisch denken konnte und Humor hatte“, erinnert sich die schlohweiße Dame, die am Sonntag 80 Jahre alt wird.

Ein Vierteljahrhundert lang erschienen ihre Kommentare zur Tagespolitik auf der Meinungsseite der „Süddeutschen Zeitung". Daneben belieferte sie den „Spiegel“, die „Zeit“, „Titanic“, „Vorwärts“ und viele andere Blätter. In den Siebziger- und Achtzigerjahren war es unmöglich, die linke und liberale Presse zu lesen, ohne nicht regelmäßig auf eine Karikatur von Marcks zu stoßen. So wurde sie zur Chronistin der alten Bundesrepublik. Ihre besten „Karikaturen der letzten 50 Jahre“ versammelt nun eine Werkschau, die nach Stationen in Heidelberg, Koblenz, Basel und Göttingen ab heute im Willy-Brandt-Haus zu sehen ist.

Die Ausstellung breitet in opulenter Fülle noch einmal aus, was Marie Marcks berühmt gemacht hat: Die lockere Linienführung, die im Laufe der Jahre immer ausgedünnter und spartanischer wird. Ihr genügen wenige Striche, um Figuren und Situationen zu charakterisieren. Dazu trägt nicht nur das skurrile Aussehen ihrer meist melancholischen Gestalten bei, sondern auch, was sie sagen und wie: Marcks hat ein präzises Auge und Ohr für den look und sound unserer Lebenswelt. Wer wissen will, welche Moden vor zwanzig Jahren herrschten und welche Phrasen gedroschen wurden, muss sich nur ihr Porträt einer 68er-Familie anschauen: „Wer oder was macht wen oder was an? Der Macker: Nominativ - die Tussi - Akusativ. Schnall´ das doch mal, du Idi!“, raunzt 1984 ein Vollbart-Vater im Strickpulli seinen schulpflichtigen Sohn an, der mit Irokesen-Haarschnitt und Sicherheitsnadeln im Ohr über seinen Hausaufgaben brütet und antwortet: „Ich blick den Scheiß nich!“

Oft ist Marcks ihrer Zeit voraus, ahnt Stimmungen und Strömungen, bevor diese breitenwirksam werden. 1973 lässt sie eine Jungakademikerin zu ihrem Lebensgefährten sagen: „Nun muffel´ doch nicht gleich wegen meinem Ruf nach Bremen; du kannst ja einen Kinderladen machen oder irgendwas!“ Vom Kinderladen abgesehen, formulieren Frauen erst heute ihre Karrierewünschen derart offen. Marcks hat die Themen der neuen sozialen Bewegungen wie Emanzipation, Abrüstung und Umweltschutz bereits aufgegriffen, als sie noch im Entstehen waren. Die Knirpse in ihren Cartoons litten unter verquasten Schulreformkonzepten schon Jahrzehnte vor der Pisa-Studie.

Dabei speist sich ihr Avantgardismus aus dem Selbstbewusstsein eines verblühenden Bildungsbürgertums. 1922 kommt Marcks in Wilmersdorf zur Welt. Ihr Vater ist Architekt, „durch und durch Preuße und ein wütender Gegner der Nazis" (Marcks). Ihre Mutter betreibt in der elterlichen Wohnung eine eigene, private Kunstschule. Wie die Tochter ihre Berliner Kindheit erlebt hat, erfährt man aus ihrer gezeichneten Autobiographie „Marie, es brennt!“ Darin kommen die Verwerfungen der Zeitläufte nur als Kulisse für Anekdoten vor, in denen sie den Alltag des Dritten Reichs aus der Kinderperspektive schildert: So verwoben Bild und Text bei Marcks immer sind, so sehr verknüpft sie Politisches stets mit Privatem.

Bei Kriegsende 1945 verschlägt es sie zu ihrer älteren Schwester nach Heidelberg. An Maries Berufswahl sind die Besatzer schuld: Eine von einem Güterzug der US-Armee stibitzte Kiste enthält statt der erhofften Lebensmittel nur Pinsel. Marcks malt Aquarelle des Heidelberger Schlosses und verkauft sie als Souvenirs an amerikanische Soldaten. Später gestaltet sie Ausstellungspavillons und entwirft Plakate für Jazzkeller: Auch diese frühen Arbeiten im typischen, an Matisse und Cocteau geschulten Fünfzigerjahre-Stil sind in der Retrospektive zu sehen. In ihre Geburtsstadt kehrt sie nicht mehr zurück, obwohl es ihr schwer fällt: „Ich habe immer noch Sehnsucht nach der Lindenblüte in Berlin. Aber meine Kinder wollten nicht aus Heidelberg weggehen.“

Zur politischen Karikatur kommt Marcks, weil ihr zweiter Mann Chemiker ist und bei Forschungsaufenthalten in den USA auch mit Rüstungstechnologien in Berührung kommt. „Als Washington begann, Atombomben in Serie zu produzieren, war das ein Schock. Ich wollte nicht nur wie in der NS-Zeit dagegen sein, sondern versuchen, mit meinen schwachen Kräften etwas zu tun“, erzählt sie. Moralische Äquidistanz zu allen Autoritäten prägt ihr Werk bis heute.

Auf dem Papier sei sie „Detektivin, Anwältin, Richterin und Strafvollzugsbeamte in einer Person“, hat ihr Kollege F.W. Bernstein einmal über sie gesagt. Und man möchte hinzufügen: auch gnädiger Souverän, der seinen Geschöpfen alle menschlichen Schwächen verzeiht.

Bis 28. September im Willy-Brandt-Haus (Stresemannstr. 28). Dienstags bis sonntags 12 bis 18 Uhr. Der Begleitband „Sternstunden der Menschheit“ kostet 29,80 Euro.

Oliver Heilwagen

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