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Ungewöhnlich. Beim MaerzMusik-Eröffnungsabend „Time to Gather“ sitzt Pianist Marino Formenti am Flügel inmitten der Zuschauer.

© Camille Blake

Marino Formenti bei der MaerzMusik: Zeitvertreib

"Das ist kein Klavierkonzert!" Marino Formenti eröffnet das Festival MaerzMusik mit einem experimentellen Abend.

Ach, die Zeit. In dem Maß, in dem wir sie durchorganisieren und verdichten, flieht sie uns. Je mehr wir nach erfüllter Zeit streben, desto reservierter zeigt sie sich. Mancher will sie einfach nur noch totschlagen. Berno Odo Polzer kann das nicht schrecken. Der künstlerische Leiter der MaerzMusik hat seinem Programm den Untertitel „Festival für Zeitfragen“ gegeben. Zu Beginn der diesjährigen Ausgabe überlässt Polzer einem bekennenden Zeit-Entgrenzer das Haus der Berliner Festspiele. Marino Formenti hat das Areal in der Vergangenheit schon mal drei Wochen lang beschallt, da wirken die angesetzten vier Stunden für den Eröffnungsabend geradezu unspektakulär.

Das Publikum darf sich frei im Bühnenraum verteilen, auf ollen Sofas und neuen Matratzen. Im Zentrum ein Flügel, um ihn herum Noten von Renaissance bis Pop. Man kann sie dem Pianisten bittend auf den Notenhalter legen. Der meldet sich immer wieder per Mikrofon zu Wort: „Das ist kein Klavierkonzert“, ruft Formenti und bietet als Genrebezeichnung „Party“ an. Zuvor hat er für eine Sonate von Galina Ustwolskaja seine Unterarme auf die Tastatur niedersausen lassen, darauf folgt Bach. Formenti stellt sein Publikum vor die Wahl: „Hämmern oder Bach?“

Stöbern nach Noten. Die Zuschauer können dem Pianisten bereitliegendes Material vorlegen - vielleicht spielt er's ja.
Stöbern nach Noten. Die Zuschauer können dem Pianisten bereitliegendes Material vorlegen - vielleicht spielt er's ja.

© Camille Blake

Da keinesfalls der Eindruck eines stinknormalen Konzerts entstehen darf, unterbricht Formenti konsequent jeglichen musikalischen Fluss. Hier eine Pause, dort eine, noch eine obendrauf. „Ich sehe so wenige Gläser im Publikum.“ Immer wieder bittet sich Formenti Ruhe aus, dabei soll man doch tun und lassen, was man will. Zudem kann er lauter als alle. Auf seinen Wink dreht der Tontechniker auf, bis die hochgeklappten Sitze im Parkett zucken. Nein, antiautoritär ist der gemeinsame Zeitvertreib keinesfalls, auch wenn der Meister „Dilettanten“ zu sich bittet. Ein Rainer wagt sich an den „Leiermann“ aus der Winterreise, ein Mohammed aus Syrien singt seine kehlige Klage.

„Seid’s ihr eigentlich Zeitgenössische-Musik-Fetischisten“, will Formenti wissen. Eine Frage ist das nicht, der Pianist sieht sich als furchtlosen Spezialisten. Das beschert den Zuhörern immerhin einen pulsierenden halbstündigen Bernhard Lang und einen versunkenen, viel zu kurzen Salvatore Sciarrino inmitten der vorbeihumpelnden Stunden. Die fünfte steht in ihrer Mitte, als sich Formenti auf eine Zigarette verabschiedet. Er tut es so wie Gastgeber, die mit glasigem Blick beteuern: Bleibt ruhig noch. Der Großteil des Publikums versteht die Botschaft. Ohnehin kann man sich nicht vorstellen, wie diese Nacht jenseits aller Dramaturgie sonst ihr Ende finden soll. So weicht man leicht benebelt, wie von einer Party, bei der man nicht mehr weiß, was in den Gläsern war.

Das Festival läuft bis zum 20. März. Live-Streams und Programm unter www.berlinerfestspiele.de

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