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Damals, nach ’68. Der britische Schriftsteller Martin Amis blendet zurück auf einen Sommer in Italien.

©  Isabel Fonseca/Hanser Verlag

Martin Amis: Glanz und Riesenarsch-Gloria

Freie Liebe versus Paarmoral: Martin Amis’ redefreudige Sexualgroteske „Die schwangere Witwe“.

Da sitzen sie auf der Terrasse und unterhalten sich über Gloria Beautymans Hintern (der gewaltig ist): Keith, Scheherazade (deren Brüste nicht minder gewaltig sind) und Lily (an der nichts gewaltig ist). Währenddessen turnt Adriano an der Reckstange herum „und begann mit bis in die Zehennägel erstarrten Beinen zu rotieren.“ So ist das Leben einen langen Sommer lang, 1970, auf einem Schloss in Italien, das Scheherazades Onkel gehört. Was man hier erlebt, ist nichts mehr und nichts weniger als eine Revolution, so fühlt es sich von innen an. Von außen betrachtet ist es ein schöner Kampf und ein einziger Krampf. Aus diesem Missverhältnis schlägt Martin Amis’ neuer Roman „Die schwangere Witwe“ seine Komik.

Das Jahr 1970 dient als Chiffre für einen Paradigmenwechsel: den Zeitpunkt, an dem die Einheit von Sexualität und Fühlen aufgesprengt wurde, so wie einige Jahrhunderte zuvor die Einheit von Denken und Fühlen zerbrochen ist. Keith ist rein zufällig im selben Jahr geboren wie sein Erfinder Martin Amis selbst, 1949. Lily ist seine Freundin, Scheherazade wiederum deren Freundin, eine bislang unauffällige und nun unerwartet erblühte Schönheit, die die italienischen Männer im Dorf zu wahren Zirkusnummern hinreißt. Und Adriano erst recht, den Grafen mit Schloss, Hubschrauber, Rolls und einem fast perfekten Körper mit nur einem Makel – er ist nur 1,47 Meter groß. So kann, so muss man vielleicht sogar sprechen über Amis’ Roman, weil Amis selbst einen lässig schwingenden Tonfall gefunden hat, der das Buch lange spielend trägt, bevor ihm am Ende verzeihlicherweise etwas die Luft ausgeht.

"Höschen" ist das am häufigsten benutzte Wort

Es geht um Sex und um sonst nichts. Genauer gesagt: um das Reden über Sex. Das gehört zur sexuellen Befreiung dazu. Der tatsächliche Vorgang, wenn er denn stattfindet, bedarf hier keiner näheren Beschreibung. Die Umwälzung sexueller und gesellschaftlicher Normen ist gleichzeitig eine Umverteilung der Machtverhältnisse. Gerade der 20-jährige Keith steht in einem Wirbel erotischer Fantasien und Realitäten, in dem er nicht so recht weiß, wie ihm geschieht. Die Mädchen fangen an, sich wie Jungs zu verhalten, aber die Jungs? „Wir alle wissen, was in einer Revolution geschieht. Man sieht, was geht, man sieht, was bleibt, man sieht, was kommt.“ Die durchgehende Ironie des Romans besteht darin, dass alle permanent über Ärsche, Schwänze, Titten und Höschen (wahrscheinlich das am häufigsten benutzte Wort) sprechen, sich aber ganz und gar konventionell, ja konservativ verhalten, wenn es darauf ankommt – das übliche Beziehungsblabla, die üblichen Eifersuchtsszenen. Das Gewand der vollkommenen Freiheit erinnert eher an eine Zwangsjacke. Freie Liebe versus Paarmoral; Aufbruchs- und Erwartungsfreude versus Ernüchterung über die Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten. Einzig die undurchschaubare Riesenarsch-Gloria scheint allen anderen mehrere Schritte voraus zu sein. Wie sich später herausstellen wird, ist sie das auch, in mehrfacher Hinsicht.

Die jungen Leute sind schon viel zu lange auf der Welt

„Die schwangere Witwe“ ist kein naiv erzähltes, sondern ein genau strukturiertes und von mehreren Zeit- und Denkebenen durchzogenes Buch. Denn Keith, inzwischen in dritter Ehe verheiratet, blickt aus dem Jahr 2006 zurück auf die Ereignisse in Italien. Die Rückschau gerät zu einer Reflexion über das eigene Altern und das Altern an sich. Dort finden sich Sätze wie der, dass die Menschen früher „langsam in ihre Maske aus Borke und Walnuss“ hineinwuchsen, während sie heute aussehen „wie junge Leute, die schon viel zu lange auf der Welt waren.“ Das ist gut beobachtet und, wie so vieles, glänzend formuliert.

Keith ist ein Leser. Auf dem italienischen Schloss frisst er die englischen Romane des 18. Jahrhunderts, allen voran die von Jane Austen, in sich hinein, auf der Suche nach Sexszenen. Ähnlich wie Jeffrey Eugenides verhandelt auch Martin Amis im Subtext die Auswirkungen gesellschaftlicher Zwänge und (Anti-)Moralvorstellungen auf die konkret gelebte Liebeswirklichkeit. Das Große und Ganze, die Erwartungen, Hoffnungen und Restriktionen einer hormonell aufgeputschten Gesamtlage, liegen wie eine Folie über dem individuellen Empfinden seiner Protagonisten, und siehe da: Beides ist nicht deckungsgleich. Amis ist weniger akademisch in der Wahl seiner Mittel als Eugenides, dafür aber ist seine Sexualgroteske humoristischer. Und vor allem böser. Das tut dem Roman gut.

Martin Amis: Die schwangere Witwe. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Carl Hanser Verlag, München 2012, 414 S., 24,90 €.

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