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Kultur: Masken der Moderne

China, solistisch: Wu Hsing-Kuo und sein „King Lear“ im Haus der Kulturen der Welt Berlin

Es ist ein Moment, dessen Gewalt und Bedeutung man gar nicht überschätzen kann. Der Schauspieler legt seine Maske ab. Das wallende Hexenhaar. Den mächtigen Bart, der aussieht wie ein gefrorener Wasserfall. Das herrschaftliche Gewand. Und er fragt: Wo ist Lear? Wer bin ich?

Wu Hsing-Kuo hat im Haus der Kulturen der Welt mit seinem Shakespeare die Reihe chinesischer Solo-Performances eröffnet. Wu Hsing-Kuo, Meister der klassischen Pekingoper, ist der Leiter der 1986 von ihm mitbegründeten Contemporary Legend Theatre in Taipeh. Er hat nicht nur Shakespeare, sondern auch den griechischen Kanon – und Beckett adaptiert. Und man hat ihm das übel genommen. Ein ebenso radikaler wie notwendiger Kulturbruch, der die Pekingoper vor der Erstarrung bewahrte. In Taiwan vollzog sich die Blutauffrischung fünfzehn Jahre früher als auf dem chinesischen Festland. Auch von dort hat der Kurator Johannes Odenthal Solostücke nach Berlin eingeladen. Das chinesische Theater, sagt er, zeigt die „gewaltige Zerreißprobe zwischen Erhalt und Entwertung“ der jahrhundertealten Tradition.

König Lear auf dem Präsentierteller einer runden Bühne, umstellt von grauen Riesenskulpturen ohne Kopf. Links hinter der Wand das zwölfköpfige Orchester. Lear irrt durch die Welt, sein Wahnsinn provoziert Nebelattacken und Gewitterstürme. Er hat keine Familie mehr, sein Reich ist dahin. Wu Hsing-Kuos Schreie hallen im Echoraum einer Überlieferung, die sich auch westlichen Zuschauern sogleich erschließt. In der artistischen Reduzierung sieht man die Shakespeare-Figur aus dem Geiste Becketts, Lear selbst ist ein Geist. Ein Verwandter von Hamlets Vater, ein gealterter Orest, gejagt von Furien. Noch gehalten im Koordinatensystem der chinesischen Klassik, der Musik, dem Kanon der Mimik und Gebärden.

Lear vollführt einen Salto, da deutet sich an, dass in der Figur des alten Herrschers der Reichtum des ganzen Dramas steckt. Und plötzlich der Austritt aus der Rolle. Wu Hsing-Kuo trägt Lears Kostüm und Kopfschmuck wie eine noble Leiche über die Bühne. Ein schlagendes Sinnbild. Der Schauspieler behauptet seine Individualität, aber auch das Ich ist eine Maske.

So weit sind sie im zeitgenössischen chinesischen Theater nicht, dass der Mime jetzt eine private Person hervorkehrte, vielleicht eine Zigarette rauchte und erzählte, welche Probleme er mit seiner Frau hat und wie ihn das alles anödet. So wäre das jetzt bei uns.

Der Meister aus Taipeh zeichnet ein imaginäres Kraftfeld auf die Bühne. Die Rolle, der Schauspieler, das Ego. Und entscheidet sich für den Schauspieler. Spielt weiter, mit neuer Energie. Fängt noch einmal an. Er spricht es aus – Lear ist ein Käfig. Je heftiger man an den Stäben rüttelt, desto fester die Klammer. Es gibt nur den Ausweg in die Komödie. Wu Hsing-Kuo führt die gesamte Sippschaft vor, legt Frauenkleider an, verwandelt sich in einen noblen Köter, das Leben ist eine Farce, der Tod ein Sprung in eine andere Rolle. Das Individuum hat gewählt. Grandios!

Weitere Soli: „Spiegelbild der roten Kammer“ mit Zhao Zhigang, Schanghai, 27., 28. 3. „Emotive Sigh“ mit Tian Mansha, Chengdu. 30., 31. 3. „Mood of the Qin“ mit Li Xiaofeng, 6., 7. 4. „Hiding and Running“ mit Ke Jun, Nanjing, 8., 9. 4. Infos: www.hkw.de

Rüdiger Schaper

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