zum Hauptinhalt
Mathias Nawrat

© Yves Noir

Mathias Nawrats Roman „Unternehmer“: Schmerz ist super

Arbeiten und Großwerden bis zur Selbstaufgabe: Mathias Nawrats dystopischer Roman „Unternehmer“.

Die Situation an sich ist gar nicht so ungewöhnlich: An ihrem freien Tag macht Lipa mit ihrem Freund einen kleinen Ausflug ins Grüne. So weit, so normal. Doch dann: „Weil die Menschen die Stadt Bad Krozingen vor vielen Jahren verlassen haben, herrschen hier nun die Formen. Weiße Blüten sind auf den Berg mit leeren Flaschen und alten Wäscheständern gefallen. Auf einem Schild steht: Kur-Zentrum. Durchs Glas sehen wir ein Badebecken, und die nächste Scheibe ist von innen mit grünem Moos bedeckt.“ Hinzu kommt, dass Lipa erst 13 Jahre alt und das mit dem freien Tag wörtlich zu nehmen ist.

„Unternehmer“, das zweite Buch (der Verlag nennt das schmale Werk „Roman“) des 1979 im polnischen Opole geborenen Matthias Nawrat, ist eine Dystopie im Sprachgewand eines kindlichen Bewusstseins. Das lässt das Szenario, das hier entworfen wird, auf den ersten Blick nicht gar zu düster erscheinen; genau genommen ist es aber ein zutiefst pessimistischer und zugleich hellsichtiger Text. Die klassische Familie, und das auch noch in einer friedlichen deutschen Märchenlandschaft: Vater, Mutter und zwei Kinder, Lipa und ihr jüngerer Bruder Berti, leben in den Ausläufern des südlichen Schwarzwaldes; die Gemeinde Staufen ist nicht weit, auch die Rheinebene nicht, in der Ferne winken die Vogesen.

Doch Nawrat, der mit einem Auszug dieses Romans beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt den Kelag-Preis gewann, bürstet sämtliche konventionellen Erwartungshaltungen energisch und erfolgreich gegen den Strich. Denn wo die Familie im politischen Wunschbild und in ihrem Selbstverständnis eigentlich ein Hort des Privaten, ein Rückzugsgebiet gegenüber den Anfechtungen von Berufs- und Erwerbsleben sein will, ist es hier genau umgekehrt: Lipas Familie ist ein nach streng kapitalistischen Prinzipien organisiertes Kleinunternehmen, das die alten und neuen Floskeln von Leistung und Selbstverantwortung aufgesogen und in ihren alltäglichen Sprachgebrauch integriert hat.

Quer durch den Schwarzwald fahren die vier im alten Mercedes des Vaters, in einer nicht näher bestimmten, aber durchaus unheilvollen Zukunft, und durchforsten aufgelassene Industrieanlagen, Fabriken und sogar ein altes Atomkraftwerk nach Elektroschrott, der zu Hause in seine Einzelteile zerlegt und in wertvolle und wertlose Materialien sortiert wird. Ein Rohstoffhandel. Man muss als Autor einigermaßen versiert sein, um aus der Perspektive eines Kindes oder eines Jugendlichen zu erzählen. Die Gefahr des Absturzes in die Infantilität einerseits oder Altklugheit andererseits ist groß.

„Unternehmer“ ist auch ein Coming-of-Age-Roman.

Matthias Nawrat hat den Balanceakt glänzend gemeistert, indem er für seine Heldin einen ungewöhnlichen, ganz und gar schlüssigen Tonfall erfunden hat; eine Mischung aus einem leicht verkrampften Bürokratendeutsch und einer kindlichen Lust an Neologismen. Erstaunlicherweise wirkt das nie manieriert. Lipa ist die treibende Kraft des Unternehmens. Ihr Dasein ist eine Bilanz, der gesamte Roman ein scharf gezeichnetes Abbild einer Lebenswirklichkeit, in dem die Grenzen zwischen dem, was Arbeit und zwischen dem, was Freizeit, Rückzugsgebiet ist, vollständig aufgehoben sind. Insofern ist „Unternehmer“ ein ungeheuer gegenwärtiger Roman. Schmerzen, so heißt es einmal, müsse man ertragen können, das sei das Gesetz des Unternehmertums.

Das geht sogar so weit, dass dem Bruder im Verlauf der Handlung bei Einsätzen an der Arbeitsfront diverse Gliedmaßen abhanden kommen. Die Konkurrenz in Gestalt der bevorzugt mit Sprengstoff operierenden Familie Köberlein schläft nicht; wo gehobelt wird, fallen Späne. Als Lipa in die Schule kommt, sieht sie nicht Mitschüler, sondern Arbeitslose. Ein Lernen ohne unmittelbares ökonomisches Resultat ist ein sinnloses Lernen.

Das ist die eine Seite des Romans. Er wäre ein kaltes Klischee, ohne das Gegenbild, das Nawrat entwirft. „Unternehmer“ ist auch ein Coming-of-Age-Roman. Vielleicht, so denkt Lipa einmal, „ist das überhaupt das Wesen der Arbeit; dass sich stets – so schön diese Arbeit auch sein mag – eine zweite Person in einem regt, die nicht arbeiten will.“ Die Sprache, die Lipa spricht, ist in ihrer Verspieltheit der Versuch einer Durchpoetisierung der Welt: Nicht nur die technischen Geräte, die Kabel und chemischen Verbindungen, mit denen es Lipa sozusagen beruflich zu tun hat, werden in semantische Zusammenhänge gestellt, die eigentlich dem emotionalen Bereich vorbehalten sind. Das Wort Herz kommt erstaunlich oft vor. Aber auch in Lipas Herz (und Körper) regt sich etwas: Der lange Nasen-Timo, so heißt er nur, hat es ihr angetan; etwas geschieht mit ihr; es wird geküsst, aber mehr auch nicht, denn ganz erwachsen, wie man ist, muss man sich erst ganz sicher sein, bevor man den nächsten Schritt tut.

Es ist keine Kleinigkeit, die Nawrat vorführt: Dass man in einer unsicheren Welt den Halt nicht in persönlichen Beziehungen, sondern im Glauben an berufliche Anstrengung sucht, bis hin zur Selbstaufgabe. Und dass das selbst im Schwarzwald so ist.

Matthias Nawrat: Unternehmer. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2014.138 Seiten, 16,95 €.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false