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Liebt den Ausnahmezustand. Der Berliner Schriftsteller André Kubiczek, 45.

© Stephanie Haerdle/Verlag

Mauerfall: André Kubiczeks Wenderoman: Jung und talentiert

Wenderoman: Der Berliner Schriftsteller André Kubiczek hatte 1990 ein „fabelhaftes Jahr der Anarchie“.

Ein sanfter Tonfall prägt André Kubiczeks neuen Roman; ein Tonfall ohne Verbitterung und Anklage, eher ein wenig elegisch und wehmütig. Es ist ein Roman aus einer Zwischenzeit, aus einem freundlichen deutschen Ausnahmezustand. Die Figuren sind zwischen einem Jetztgerade und Nochnicht. Sie schweben ein wenig. Es ist nur eine kurze Zeit. Aber sie muss für diejenigen, die sie so erlebt haben wie der 1969 in Potsdam geborene Schriftsteller André Kubiczek von prägender Bedeutung gewesen sein; von einem Zauber umgeben, der nur kurze Zeit währte.

Kubiczeks Schreiben, und das unterscheidet ihn deutlich von jenen in großen historischen Bögen angelegten DDR- und Wenderomanen der vergangenen Jahre, den Familien- und Generationsgeschichten, den Bildungs- und Entwicklungsromanen zwischen Ost und West, kreist immer wieder, seit seinem 2002 erschienenen wunderbaren Debütroman „Junge Talente“, um jene wenigen Monate, in denen noch nichts klar und alles möglich war, zwischen November 1989 und dem Sommer 1990; jener Zeit, in der die Weichen für die DDR in Richtung Verschwinden gestellt wurden und ein Nachdenken über Alternativen nicht verpönt war oder naiv erschien. Schon gar nicht in den Kreisen, in denen sich der Ich-Erzähler Andreas in Kubiczeks Roman „Das fabelhafte Jahr der Anarchie“ bewegt.

Er ist 20 Jahre alt, als die Mauer fällt, ein Typ in schwarzer Lederjacke und klobigen Schuhen. Zur Volkskammerwahl im März 1990 bildet Andreas mit einer Gruppe von Freunden eine linke Plattform, die sich für einen dritten Weg starkmacht; eine basisdemokratische Gruppierung, auf deren Flugblättern von Arbeiterräten und Trotzki die Rede ist. Man hatte tatsächlich noch Illusionen. Dann kommt der Wahltag, und der ist ein Schock: „Wir bekamen ein ganzes Prozent der Stimmen. Eines! Die Feier danach geriet zum großen Besäufnis, Anarchisten, Umweltschützer, Pazifisten: Alle gaben sich die Kante, denn jeder wusste, dass es keine zweite Chance geben würde für eine bessere Welt oder eine weniger schlechte.“

Das Potsdam des Frühlings 1990 muss ein wilder Ort gewesen sein

Es muss ein wilder Ort gewesen sein, dieses Potsdam des Frühlings 1990, und davon kann Kubiczek anschaulich erzählen: die Schwarzhändlermärkte, die fliegenden Händler, die Schrott, Billigkram und kleine Schätze anbieten; die Wohnungen, die zurückgelassen werden, weil ihre Bewohner das Heil im Westen vermuten, die zueinander quer stehenden politischen Aktivisten. Es sind Momente der absoluten Freiheit, Tage, in denen alle Autoritäten ihre Gültigkeit verloren haben. In der Stadt hört niemand mehr auf die Polizei. Der alte Staat hat seinen Schrecken verloren, einen neuen gibt es noch nicht. Doch was tut man, wenn die eigenen Hoffnungen so jäh gebremst werden wie durch das Wahlergebnis? Man kämpft. Oder man zieht sich zurück.

Cover von Kubiczek-Roman "Das fabelhafte Jahr der Anarchie"
Cover von Kubiczek-Roman "Das fabelhafte Jahr der Anarchie"

© Verlag

Andreas und seine Freundin Ulrike, mit deren Bruder Arnd Andreas in einer besetzten Wohnung gelebt hat, packen ihre paar Sachen zusammen und ziehen aufs Land, in das heruntergekommene Bauernhaus von Ulrikes verstorbenen Großeltern. Was sie dort praktizieren, lässt sich rückblickend als eine Art von vorweggenommenem Manufactum-Dasein beschreiben: Sie pflanzen und säen, schaffen sich Hühner an, renovieren das Haus, pflegen das Dorfleben in der Kneipe. Geld scheint da zu sein, und die alten Strukturen haben hier eher noch Bestand als in der Stadt: Die leicht verwirrte Seniorin, die den dörflichen Konsum samt angeschlossenem Postamt und Telefon verwaltet, ist nach wie vor die zentrale Anlaufstelle.

So leben sie also dahin, Ulrike und Andreas. Es passiert nur ganz wenig. Es verschwinden zwei Hühner. Ein versprengter russischer Soldat tritt in ihr Leben. Die Politik, die Umwälzungen des Landes: weit weg. Am Wochenende kommt Arnd ab und zu vorbei und bringt Realität in den Hortus conclusus. Und in der benachbarten Kreisstadt werden erste Container auf dem Markt aufgestellt: Das Westgeld kommt, die West-Bankenfilialen. Das bleibt im Roman nicht ohne Folgen. In erster Linie aber herrscht Langeweile. Das verschweigt Kubiczek nicht, im Gegenteil – sie ist das Thema, auch zwischen Ulrike und Andreas. Das führt so weit, dass sie bemerken, dass sie Urlaub brauchen von der Langeweile.

Kubiczek verfügt über Humor, Ironiefähigkeit und ein großes Gespür für Dialoge. Die weltgeschichtlichen Erschütterungen packt er bewusst in ein großes Federkissen, auf das die Stadtflüchtlinge ihr Haupt betten. So ist der Knall am Ende des Romans auch weit entfernt, kaum hörbar für Ulrike und Andreas. Aber die Zeit in diesem Zwischenreich da draußen, wenigstens die wird ihnen geblieben sein.

André Kubiczek: Das fabelhafte Jahr der Anarchie. Roman. Rowohlt Berlin, Berlin 2014.270 Seiten, 19,95 €.

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