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Ekstase im Ganzkörperanzug. Dejan Bućin ist Dionysos (Mitte, mit Mikro), Miloš Lolic führt Regie in dieser Produktion des Gorki.

© DRAMA/Imago

Maxim Gorki Theater: Ekstase, frei nach Euripides

Rave, mal antik: In „Mania“ am Berliner Maxim Gorki Theater geben die Schauspieler alles.

Dass es sich beim Schauspielerjob um eine anspruchsvolle Angelegenheit handelt, schwante einem ja schon immer. Dank Miloš Lolics frei nach den „Bakchen“ des Euripides auf die Bretter gehauenem Achtzigminüter „Mania“ gibt es jetzt Detailgewissheit: Der Darsteller der Stunde verbindet – Chapeau! – die Kondition eines soliden Berlin-Marathon-Mitläufers mit der Standfestigkeit einer Profi-Eistänzerin und sollte zudem eine überdurchschnittliche Bereitschaft zum Körperkontakt mit den Kollegen mitbringen. Texthuberei hingegen rangiert – kleine Grußadresse an die altphilologische Fraktion – an diesem Abend eher im unteren Drittel des Anforderungsprofils.

Das Gorki-Ensemble schreitet in Sweatshirts und Turnschuhen zur Tat

„Die Bakchen“ des Euripides handeln von dem prinzipiell erfreulichen, in der Regel aber nicht ganz nebenwirkungsfreien Zustand der Ekstase. Anders als dem Durchschnittszeitgenossen muss den antiken Titelheldinnen von 406 v. Chr. allerdings erst auf die Entgleisungssprünge geholfen werden. In Menschengestalt kehrt der Rausch- und Weingott Dionysos in seine Geburtsstadt Theben zurück, wo man seine Göttlichkeit nicht anerkennt und ein penibler Buchhaltertyp namens Pentheus auf dem Thron hockt. Aus Rache führt Dionysos die komplette weibliche Bevölkerung ins Gebirg’ und versetzt die Frauen in eine „Raserei“, welche dem Boten-Vernehmen nach sowohl konditionsintensive Beischlaf- als auch Besäufnis- und Tierzerfleischungsorgien umfasst und für den Saubermann Pentheus tödlich enden wird.

Zu dieser antiken Kollektiv-Enthemmung sucht der 1979 in Belgrad geborene, nachwuchspreisgekrönte Regisseur Miloš Lolic nun im Berliner Maxim Gorki Theater eine zeitgeistige Entsprechung. Und findet – was schon vokabeltechnisch nahe liegt – den Rave. In Sweatshirts und Turnschuhen schreitet das siebenköpfige Gorki-Ensemble an die Rampe und entwickelt zu endlosloop-selig wummernden Bässen eine fitnessstudioaffine Gruppenchoreografie. Während sich Sesede Terziyan in einer reizvoll domestizierten Form des Headbangings übt, beeindruckt Aleksandar Radenkovic mit variantenreicher Armarbeit zum leicht anindividualisierten Aerobic-Grundschritt.

Und da die Bühnenbildnerin Evi Bauer mittig das künstlerische Dekadenz- und Sinnabsenz-Symbol schlechthin aufgebockt hat – eine Kopie von Jeff Koons’ 58,4 Millionen Dollar schwerem „Balloon Dog“ – ist von vornherein klar, dass sich das Setting nicht komplett richtungsweisend ändern kann.

Als Till Wonka nach einer gefühlten halben Stunde ein pinkfarbenes Mikro aus den Klamotten fingert und sich als Dionysos vorstellt, erschließt sich immerhin auch Muttersprachlern der Sinn der englischen Übertitelung im Maxim Gorki Theater: Unter dem Bassgewummer versteht man kein Wort. Soll man auch nicht. (Wie sich das allerdings verhält, wenn die Bässe mal schweigen, darüber lässt die Inszenierung durchaus widersprüchliche Schlüsse zu.)

Vor allem Wonka als Dionysos und Radenkovic als Pentheus, der den Weingott wiederholt als „Fremden“ kategorisiert, liefern sich abendfüllend körperintensive Kämpfe, weil sich jeder vom gegensätzlichen Prinzip anziehungsgefährdeter zeigt, als ihm lieb ist. Die Turnschuhe werden nach und nach durch heutige Kothurn-Varianten und die Sweat- durch Glitzershirts ersetzt, bis das Ensemble final in fleischfarbenen Ganzkörperanzügen auf einem vom Schnürboden triefenden Glibberschleim ekstatisch ineinander rutscht. Logisch, dass final selbst Dionysos machtlos ist gegen die (Aus-)Gleitgeister, die er rief: Konsequenz wäre wirklich das Letzte, was man diesem Abend absprechen kann.
wieder am 13. und 20. Juni, 19.30 Uhr

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