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Heilige Hallen. Aber die New York Public Library möchte jetzt mit Google kooperieren. Werden die hier gelagerten Bücher damit überflüssig?

© Reuters

Medienkritik: Unser digitales Gedächtnis

Früher gab es Wissen, abgespeichert im Gehirn. Dann kamen Schrift und Druckerpresse, heute gibt es das Internet. Wer braucht da noch selbst zu wissen? Eine kleine Reise durch die Geschichte der Medienkritik.

Es beginnt alles schon beim Entstehen dieses Textes: Einmal nur „Verändert das Internet das Gehirn?“ in die Googlesuche eingegeben, und schon liegt sie vor einem – diese Fläche aus Zeitungsartikeln und Forschungsstudien, Meinungstexten und lexikalischem Wissen. Binnen weniger Minuten lässt sich da viel erfahren – etwa über den „Flynn-Effekt“, jenes erstmals von dem neuseeländischen Politologen James R. Flynn beschriebene Phänomen, wonach der Durchschnitts-IQ in westlichen Ländern bis in die Mitte der 90er Jahre konstant stieg. Danach stagnierte er oder nahm gar ab. Warum, das weiß keiner so genau. Einige nennen den steigenden Anteil von Migranten in den jeweiligen Testgruppen als Ursache, andere Veränderungen im Schulsystem. Komischerweise scheint keiner auf den wachsenden Einfluss technischen Geräts auf unsere Alltagskommunikation abzuheben. Stattdessen lernen wir, dass die Sphäre des räumlichen Vorstellungsvermögens bis heute immer besser ausgeprägt ist, wohingegen die Konzentration auf einen Text, einen semantischen Zusammenhang, immer schwieriger wird.

Dabei stolpert man auch über den internetskeptischen „FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher und sein Buch „Payback“ und weiß am Ende, dass wir bald nichts mehr wissen, weil uns nicht nur der Drang, Dinge zu behalten, sondern auch die Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem zu scheiden, abhandenkommt.

Die Jugend von heute, so lassen sich diese Befunde zusammenfassen, begreift zwar binnen kürzester Zeit selbst kompliziertere Benutzeroberflächen technischer Geräte. Lesen oder gar Gelesenes zu speichern, fällt ihr derweil aus den genannten Gründen immer schwerer. Dem traditionsbewussten Bildungsbürger, aufgewachsen in einer Welt, in der Klassiker durch gewissenhafte Lektüre oder gar Auswendiglernen performativ geheiligt wurden, muss das verdächtig erscheinen: Wo die Erwähnung von Schillers „Glocke“ keine kollektiven Rezitationsreflexe mehr auslöst, scheint der Untergang des Abendlandes nah. Dabei sind die allerjüngsten Entwicklungen in die meisten Lamenti noch gar nicht eingespeist.

Mit etwas kulturpessimistischer Verve könnte man behaupten, dass erst mit der Smart Communication – der Durchsetzung des mobilen Internets auf Handys – sich das massenhafte Gegenbild von dem realisiert hat, was das klassische Bildungsideal ausmacht. Die allzeit verfügbaren Informationsspeicher machen eigene Gedächtnisleistungen nahezu obsolet, jedes Unterscheiden in „werthaltig“ und „vernachlässigenswert“ erübrigt sich. Wo Information allgegenwärtig ist, hat echtes Wissen – jene bereits in Platons Theätet beschworene „wahre, gerechtfertigte Meinung“ – offenbar keine Chance mehr. „Was wir da tun, wenn wir vor unseren Minitels, Apples und Commodores sitzen, ist derart primitiv, daß keinerlei Symposien, Workshops oder Seminare darüber hinwegtäuschen können. Es ist eben nur eine Karikatur des Denkens“: Was der Medienphilosoph Vilém Flusser bereits 1987 in seinem Essay „Die Schrift“ festhielt, scheint heute, da die Nachfahren der genannten Gerätschaften noch einmal rabiat an Einfluss gewonnen haben, aktueller denn je.

Kein Gang in die Bibliothek mehr? Kein Griff zum Lexikon im eigenen Bücherregal? Überhaupt keine selbstständige Erinnerungs- und Gedächtnisleistung mehr – nicht in der Kneipe um die Ecke, wo das Gespräch auf die griechische Mythologie kommt und einem partout die Mutter der Musen nicht einfallen will (Mnemosyne), und nicht am heimischen Abendbrottisch, wo die dringliche Frage erörtert wird, wer 1966 im Finale des Europapokals der Pokalsieger den zwischenzeitlichen Ausgleich für den FC Liverpool besorgte (Roger Hunt)?

Von Sokrates bis in die Gegenwart - die Geschichte der Kritik an Aufzeichnungs- und Speichermedien

Die Geschichte der Kritik an solchen Zuständen, die nebenbei eine kleine Geschichte des Kulturpessimismus ist, beginnt nicht erst bei Vilém Flusser. Das Misstrauen gegenüber Gegenständen, die es Menschen ermöglichen, Informationen anderswo zu deponieren als in ihrem eigenen Gedächtnis, zeigt sich in der Vergangenheit immer wieder. Besonders dort, wo eine Innovation – ähnlich dem Smart Computing heute – dabei ist, das Leben einer Gemeinschaft nachhaltig zu verändern. In ihrem Vergehen hat eigentlich noch jede Welt prominente Fürsprecher gefunden. Die Ängste, die diese artikulieren, ähneln sich dabei, so unterschiedlich die geistesgeschichtlichen, philosophischen und theologischen Rahmenbedingungen der jeweiligen Kritik auch sind. Ob zur Erfindung der Schrift, der Einführung der Druckerpresse oder ihrer schrittweisen Ersetzung durch digitale Ziffern, ob aus der Schule der antiken Philosophie, dem Glauben des christlichen Mittelalters oder dem Geist der Aufklärung heraus geäußert: Immer geht es der Kritik um einen Verlust von Kontrolle und Durchdringung. Es geht ihr darum, dass etwas abhandenkommt, wenn sich die Dinge, indem sie an Eigenständigkeit gewinnen, von den Menschen entfernen.

Dabei sind diese kritischen Töne, so selbstverständlich uns das Kritisierte heute erscheinen mag, durchaus ernst zu nehmen. Dass ausgerechnet der Stammvater der westlichen Denkkultur, Sokrates, im Dialog mit Phaidros auf jene Kulturtechnik der Schrift einteufelt, die ihn dank seines Schülers Platon heute noch rezipierbar sein lässt, erscheint nur auf den ersten Blick absurd. Auf den zweiten ist gerade das, was Sokrates in seiner Schilderung eines Gesprächs den altägyptischen König Thamus sagen lässt, unvermindert bedeutsam: „Nicht also für das Erinnern, sondern für das Gedächtnis hast du ein Hilfsmittel erfunden. Von der Weisheit aber bietest du den Schülern nur Schein, nicht Wahrheit dar. Denn Vielhörer sind sie dir nun ohne Belehrung, und so werden sie Vielwisser zu sein meinen, da sie doch insgemein Nichtswisser sind und Leute, mit denen schwer umzugehen ist, indem sie Scheinweise geworden sind, nicht Weise.“

Erinnern/Gedächtnis, Sein/Schein: Es sind diese Gegenüberstellungen, die aus der Distanz von fast 2500 Jahren (die Schriftkultur macht’s möglich) für terminologische Genauigkeit sensibilisieren, gerade bei der Frage nach den Potenzialen und Risiken von Speichermedien. So antiquiert die frühe Medienkritik stellenweise wirkt, so sehr regt sie den Möglichkeitssinn an: Dass „geschriebene Reden“ nicht mehr seien „als eine Gedächtnishilfe für den, der das schon weiß, wovon das Geschriebene handelt“, greift aus heutiger Sicht sicher zu kurz. Da werden die Potenziale verkannt, die die Schrift hat, wenn sie nicht mehr nur bereits Gesagtes nachvollzieht, sondern selbst Produktionsmedium ist. Aber der Gedanke wird ja fortgeführt: Dass es darüberhinaus nicht gut sei, dass sich die geschriebene Rede „aller Orten umher“treibe, „gleicherweise bei den Verständigen wie nicht minder bei denen, für die sie gar nicht paßt“, weist auf geradezu erschütternde Weise ins 20. Jahrhundert. Wenn man so will, direkt zu Alfred Kerrs berühmtem „Hitler: das ist der Mob, der Nietzsche gelesen hat“. Und damit, stark zugespitzt, auch zu der Frage, ob die Menschheitskatastrophe bereits in ihren Ursprüngen eine Medienkatastrophe ist, in diesem Fall eine des Mediums Schrift.

Allerdings – und das ist gerade an dieser Stelle erwähnenswert – fordert Sokrates nirgendwo die Abschaffung oder Verdammung der Schrift. Das kritische Nachdenken über mediale Umbrüche (von Sokrates bis Flusser und darüber hinaus) mag oft als konservativ erscheinen. Weil es Erfahrungswelten beschwört, die durch die jeweils neue Kulturtechnik unwiederbringlich verloren sind. Aber in der Mehrzahl der Fälle ist es nicht reaktionär und fordert keine Verbote.

So ist denn auch die vielleicht skurrilste unter den Mäkeleien an menschheitsgeschichtlichen Neuerungen keine Abrechnung. Die Schrift „De Laude Scriptorum“ des Sponheimer Abtes Johannes Trithemius von 1492 trägt es bereits im Namen, dass sie „Zum Lobe der Schreiber“ und nicht als Angriff auf Gutenbergs wenige Jahre zuvor erfundene Druckerpresse verfasst ist. Dass Letztere schlecht wegkommt gegenüber der „heiligen“ Tätigkeit der schreibenden Mönche, steht auf einem anderen Blatt. Interessant ist aber vor allem, wie Trithemius mit der Vorstellung einer Welt umgeht, in der alle Schriften gedruckt sind. „Selbst wenn es irgendwann alle Werke gedruckt gäbe“, so übersetzt der Würzburger Historiker Klaus Arnold im Jahr 1973 Trithemius’ lateinischen Text, „bräuchte ein hingebungsvoller Schreiber von seinem Eifer keinesfalls abzulassen.“ Denn: „Erst seine Leistung erwirbt den dürftigen Werken Autorität, den wertlosen Größe und den vergänglichen Langlebigkeit.“

Autorität, Größe, Langlebigkeit – es mutet fast schrill an, dass Trithemius in den Anfängen der Gutenberg-Galaxis Werte beschwört, die wir aus den Reden zu ihrem Ende kennen. Auch, dass er dabei ausgerechnet das „Vorbild der Alten“ beschwört, die „bereits in der Antike“ die „Liebe zu den Büchern“ gepflegt hätten, ist nach der Lektüre des „Phaidros“ einigermaßen komisch. Kulturpessimisten, so scheint es aus der Sicht der Nachgeborenen, irren sich gern in der Überlebenskraft der Welt. Was aber über- und weiterlebt, ist natürlich die Welt der Nachgeborenen, das wird dabei schnell vergessen. Wer mag heute schon sagen, wie ein Sokrates die Schriftkultur, wie ein Trithemius das Netz empfände und Flusser die Smart Communication? Und was bedeutet langfristig die größer werdende Konkurrenz der Medien für Werte wie Autorität, Größe und Langlebigkeit? Auch die Anstöße, die Trithemius gibt, scheinen bei näherem Hinsehen erstaunlich aktuell.

Ist das Faktische tatsächlich das Erstrebenswerte? Die Frage stellt sich, sobald man eine Brücke von Sokrates zum digitalen Gedächtnis unserer Tage zu schlagen versucht. Welche Bedeutung haben diejenigen, die mahnend am Rande stehen, während sich alle Information immer weiter virtualisiert – aus dem Gedächtnis in die Handschriften, aus den Handschriften in den Druck, aus dem Druck auf den Rechner, von dort ins Netz und von den statischen PCs auf mobile Endgeräte? Die Mahner, so viel ist sicher, tragen mit ihren Sorgen zum konstruktiven Nachdenken über die kulturelle Bedeutung technischer Errungenschaften bei – und damit, ob gewollt oder nicht, zu deren Nutzen.

Dass es dabei nicht nur um vorgeschobene Argumente verbitterter Traditionalisten geht, zeigt das Beispiel Vilém Flussers. Dessen Schrift zur Schrift ist eben keine Tirade, sondern ein feines Abwägen, das der Schrift (und später der Druckerpresse) eine Bedeutung zumisst, die weit darüber hinausgeht, lediglich Bedeutungsträger zu produzieren. Es ist nichts weniger das Programm der Aufklärung, das für Flusser seinen Ursprung im „schreibenden Reißzahn“ hat, auf den das lateinische „informare“ (zu Deutsch laut Flusser: Formen in etwas graben) verweist. „Vor der Erfindung der Schrift ist nichts geschehen, alles hat sich nur ereignet“: Weniger als eine Verdammung des Computerzeitalters spricht aus solchen Zeilen die Wertschätzung der geschriebenen und gedruckten Schrift, durch die es erst gelingt, menschliche Vorstellungen zu „zählbaren, erzählbaren, kritisierbaren Begriffen“ zu ordnen. Eine vom Menschen ausgehende Ordnung, die Flusser bereits in den Achtzigern in Gefahr sah: Das durch Jahrhunderte des Buchdrucks genährte „historische Bewusstsein“ werde, wie er später bemerkte, in seiner „Klarheit und Distinktion“ seitens des „magischen Daseins“ des Codes bedroht, der jede Schrift nur als Bild darstellt. „Das für den gegenwärtigen Umbruch charakteristische Instrument ist ein Zähler. Der Computer scheint langsam (und unwiderruflich) eine geistige Funktion des Menschen nach der anderen zu übernehmen: Rechnen, logisches Denken, Entscheiden, Voraussehen.“

„Primitivisierung, Barbarisierung und Dekadenz“ – es sind harte Worte, die Flusser für den Rückfall in den „Kindergarten“ der Kultur gebraucht. Der Geist der Schrift, der sich der Herrschaft des digitalen Codes unterordnet: Wie bei Trithemius und Platon sind es auch bei ihm zwei Welten, die gegeneinander geführt werden. Dabei steht der Klarheit der Schriftkultur selbst dort, wo Computer Geschriebenes darstellen, etwas „Obskures“, Unklares, Gleitendes gegenüber. Ein bisschen scheint Flusser hier das Unbehagen der Bibliophilen am E-Book vorweggenommen zu haben. Und auch sonst sieht der Denker erstaunlich klar in eine finstere Zukunft: „Wir werden vieles umlernen müssen. Das ist schwierig, weil das zu Lernende schwer zu erlernen ist, und vor allem, weil es schwer ist, das einmal Gelernte zu vergessen.“

Was es jetzt zu lernen und zu vergessen gilt

Was es zu lernen, umzulernen und zu vergessen gilt? Flusser ist da radikal: „Wir werden das Alphabet aus dem Gedächtnis zu löschen haben, um dort die neuen Codes lagern zu können.“ Auch hier gilt: Was zunächst absurd klingt, bleibt bedenkenswert – ließe sich doch im Umkehrschluss sagen, dass das Verlernen des Alphabets bis heute schlichtweg versäumt wurde. Denn vielleicht ist es ja tatsächlich so! Vielleicht zeigen, weil so viele noch ihr Heil in der Schrift suchen, so wenige Interesse an der eigentlich bedeutsamen Sprache unserer Tage: den Programmiercodes. Wo kaum jemand diese Codes beherrscht, verirren wir uns – nach Flusser – immer tiefer in einer Höhle. Sind Scheinweise ohne Gespür für das, was tatsächlich Autorität in unserem Leben hat. Sind ausgerechnet hier unfähig, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen.

Sicher ist das eine sehr pessimistische Sicht der Dinge, mit der diese kleine Geschichte des Kulturpessimismus endet. Natürlich steht (fast) nirgendwo geschrieben, dass der Code die Schrift langfristig auslöschen wird, dass man Ersteren kennen muss, um Letztere zu verstehen. Ferner, dass Langlebigkeit und Autorität bedeutsame Werte, Wissen und Scheinwissen wirklich verschieden sind. Vielleicht kann man es auch positiv fassen: Wo Informationsbeschaffung dank der unermesslichen Speicherkapazität der Zählwerke (fast) kein Problem mehr darstellt, haben wir viel mehr Zeit, Muße und Anregungen, einfach nur nachzudenken. Und sei es darüber, was für große Fragen sich unter den spiegelglatten Benutzeroberflächen unserer Smartphones und Tablet-PCs verbergen. Ob dieses Nachdenken Bestand haben wird, ob der Spaß noch der Gleiche ist, wenn man für einen Text wie diesen nicht mehr eine Bibliothek aufsuchen muss, um den alten Trithemius auszugraben: Das alles wissen wir erst morgen.

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