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Kultur: Mehr Besucher!

Traum und Albtraum eines Museumsdirektors

Es gibt viele Projekte, die wir verwirklichen wollen, darunter eines, das Traum und Albtraum zugleich ist: Wir wollen mehr Besucher. Das klingt idealistisch, ja naiv. Normalerweise vermeiden wir das Thema Zahlen. Aber nach so vielen Jahren im Kulturbetrieb weiß ich viel über die Relevanz von Bildung und die Folgen intellektueller Versäumnisse, welche Bedeutung Prestige hat und welche alternativen Möglichkeiten es gibt, „Erfolg“ in Zahlen zu messen. Und trotzdem: Wie sollen wir Besucherzahlen evaluieren?

Daran wurde ich erinnert, als ich ein Interview mit der belgischen Filmemacherin Chantal Akerman las. Enttäuscht berichtet sie, dass in Paris kaum mehr als 20000 Karten verkauft wurden: „Verkaufte Eintrittskarten, Eintritt ist so ein magischer Begriff! Ich gehe damit ins Bett und wache damit auf; ich denke die ganze Zeit an nichts anderes.“ Ihr Interviewer schien wenig beeindruckt. Hätte er nicht hinzufügen können: „Hey, ich kann auch nichts machen, wenn mein Lob die Massen nicht anlockt.Trotzdem waren Tausende Pariser glücklich, Ihren Film zu sehen.“ Es ist ein ernstes Problem, wenn die Kritiker spekulieren: Der Stoff ist großartig, aber nur wenige werden ihn sehen wollen. Solche Selbstzensur kommt immer häufiger vor. Kritiker loben ein Werk oder eine Ausstellung, aber warnen vor seinem „Niedergang auf Raten“. Bemerken diese Kritiker eigentlich das Paradox? Bleibt die Frage: Wie viel Energie wollen wir in Öffentlichkeit investieren?

Die jetzt gerade entstehende Kunst ist enorm aufregend. Nie zuvor hat es eine solche Begeisterung für kulturelle Produkte gegeben. Allerdings: Die Besucher emanzipieren sich immer mehr; man will sich bilden, aber nichts erklären lassen. Marketing-Spezialisten nennen dieses Phänomen narrow casting: Einige wenige werden auf die Mannigfaltigkeit vieler Dinge aufmerksam, und zwar zum selben Zeitpunkt. Sie bewegen sich von der schieren Begeisterung zur Selbstherrschaft. Vervielfache für dich selbst!

Das ist ein neuer Faktor in der gesamten Kunst-Rezeption. Es ist die Aufgabe der Politiker, der kulturellen Leitfiguren, der Presse und der Produzenten,das narrow casting zu akzeptieren. Nehmen wir es als Herausforderung! Ansonsten wird der private Sektor – schon vom Wachstum privater Museen gehört? – übernehmen, was glücklicherweise noch ein öffentlicher Bereich ist. Es darf nicht sein, dass auch Experimentelles und Erziehung zum privaten Sektor überwandern. Und dass wir im öffentlichen Bereich aus blanker Angst vor Besucherschwund nur noch präsentieren, was Massen anzieht. Wahre Kultur fände dann anderswo statt – zum Beispiel in den Händen von ein paar Privaten. Ein Traum von einem Albtraum! Und ein Albtraum von einem Traum!

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