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Kultur: Mehr telefonieren

Vor einem Jahr jagte Amerika den Sniper von Washington. Der Filmstart von Joel Schumachers Thriller „Nicht auflegen“ wurde erneut verschoben. Ein Lehrstück aus der Traumfabrik – und ein Gespräch mit dem Regisseur

Um es im „Bravo“-Stil zu sagen: 81 atemberaubende Minuten. Oder doch eher 81 Minuten, die den Atem nur rauben wollen, um jeden Preis? Auch das schreiben jetzt mancher gern: Der Film sei eine Tour de Force. Oder eher eine Tour de Farce?

Mit „Nicht auflegen“ – der Originaltitel lautet ausreichend sinnvoll „Phone Booth“ (Telefonzelle) – hat Joel Schumacher einen Action-Thriller gedreht, der ohne die Hollywood-übliche gigantopyromanische Materialschlacht auskommt. Schon das stimmt uns seh- und hörgeschädigte Filmkritiker heutzutage milde. Zudem hat der Regisseur mit dem Sniper-Stoff so heftig ins Themenkästchen der Aktualitäten gegriffen, dass das Studio den Film letzten Herbst nicht in die amerikansichen Kinos bringen konnte: In Washington trieb gerade der Heckenschütze John Allen Muhammad sein Unwesen, dessen Gottähnlichkeitswahn zwölf Menschen zum Opfer fielen. Ein weiterer Bonuspunkt für gesellschaftliche Relevanz.

Und lässt Schumacher nicht sogar, Gipfel der Provokation amerikanischer Sehgewohnheiten, am Ende das Böse triumphieren: Ist „Nicht auflegen“ damit nicht reif für die Hall of Fame? Nun, das Böse setzt immerhin das altbewährte Gute durch. Also: Vorsicht.

Wir sind in New York, 53. Straße. Und wir bleiben in New York, 53. Straße, 81 Minuten lang. 81 lange Minuten begleiten wir den jungen Stu (fraglos brillant: Colin Farrell), einen selbstbewussten Kotzbrocken von PR-Agenten. Zunächst verkuppelt er auf der Straße an zwei Handys – ein serviler Assistent bedient das Zweitgerät – die New Yorker Showbiz- und Medienschickeria stets zu eigenen Gunsten, ein hübsch tricksender Karrierist von Teufels Gnaden. Doch gerade hat man sich, bereits leicht erschöpft, ein durchaus umfassendes Bild vom skrupellosen Charakter des Helden gemacht, betritt Stu die letzte anrufbare Telefonzelle in New York City – und binnen 81 Minuten minus fünf wird aus der leicht überständigen New-Economy-Leitfigur der späten Neunziger Jahre das ärmste Würstchen des neuen Jahrtausends.

Das Drehbuch will es so. Es ist das Drehbuch von Larry Cohen, der nach eigenem Bekunden zwanzig Jahre an der Idee zum Film getüftelt hat, und es ist das Drehbuch des namenlosen Anrufers – Gott oder Satan, egal, ein Herr eben über Stus Leben und Tod. Zunächst ist er allein durch Drohungen und Einschüchterungen in der Lage, den smarten jungen Kerl sofort und völlig zu paralysieren, obwohl er sich für sein Outing als Killer mit Präzisionsgewehr fast eine Kino-Viertelstunde Zeit lässt. Schon merkwürdig. Und dann kommt die nach einem ersten Todesfall herbeigerufene Polizei – der Sniper streckt einen Zufallsstörer seiner Pläne nieder – erst nach einer geschlagenen weiteren halben Stunde darauf, dass hinter dem Herumgefuchtel des harmlos wirkenden Dauertelefonierers die tödliche Drohung eines Heckenschützen steckt. Nun gut, das alles mag in erster Linie der dramaturgischen Steigerung dienen.

Das Drehbuch will aber nicht nur Drama, sondern Moral. Und das fett. Zunächst legt der so coole Stu in der Zelle vorm Anruf bei seiner neuen Geliebten Pam (brünett: Katie Holmes) sogar den Ehering ab – schließlich macht er sich der Sünde eines für die Ehefrau nicht nachverfolgbaren Anrufs schuldig. Und dann muss er, großes Semifinale, seiner frisch erwachten Leidenschaft für Pam abschwören und sich wieder innig seiner Gattin Kelly (blond: Radha Mitchell) zuwenden, und dies zur Primetime vor den zu Dutzenden herbeigeschafften TV-Kameras.

An der Terror-Leine

Das Drehbuch will schließlich, dass ausgerechnet Forest Whitaker als polizeilicher Einsatzleiter dümmer agiert, als die Polizei erlaubt: Erst übersieht er den aufdringlich auf Stus schickem Anzug herumhüpfenden Laserpointer, dann dessen Wunde am Ohr (Folge eines Sniper-Warnschusses vor dem Polizeieinsatz), vor allem aber die Tatsache, dass Stu offenkundig unbewaffnet ist. Jedenfalls verzichtet er lange Zeit unverständlicherweise darauf, den verwundeten Spinner aus der Telefonzelle herauszuholen. Und als ihm dann doch unabweisbar dämmert, dass Stu nur an der Terror-Leine des Snipers hüpft, lässt er keineswegs die Straße räumen, wie es sonst Usus wäre.

Dass der Erpresser stets durch den Hörer mitbekommt, was der Meter entfernt stehende Cop raunt; dass das Handy des Dauertelefonierers Stu, kaum ist er in der Zelle, erst nach einer halben Stunde erstmals klingelt; dass der Böse (Kiefer Sutherland) schließlich Gelegenheit bekommt, mitten unter den Präzisionsschützen der Polizei ungestraft seinen Waffenkoffer vorzuzeigen: geschenkt.

Damit wir uns richtig verstehen: Wir sind nicht in einer Leslie-Nielsen-Copklamotte, Joel Schumacher meint es bitter ernst. Dabei lebt „Nicht auflegen“ formal durchaus geschickt vom Spiel mit den ästhetischen Mitteln des Dokumentarischen, ja, des Cinema vérité: Die erzählte Zeit fällt fast mit der Erzählzeit zusammen, zeitweise agiert die Handkamera wie entfesselt – nur wollen die massiven Unglaubwürdigkeiten der Handlung gerade dazu nicht recht passen. Nicht alles eben lässt sich mit dem simplen Kinoziel der Identifikation rechtfertigen: Schaut her, Leute, schaut in Stus schreckgeweitete Augen, genau wie ihm könnte es auch jedem von euch ergehen.

Wie also sollen wir gebannte oder auch nur teilzeitgefangene Zuschauer „Nicht auflegen“ deuten? Als unfreiwillige Anleitung für durchgeknallte Sadisten und deren Allmachtsfantasien? Dafür ist das Drehbuch gottlob zu unglaubwürdig. Als Mahnung, privat und beruflich stets auf hochmoralischen Pfaden zu wandeln? Das würde Schumacher womöglich gefallen. Als unfreiwillig beißende Kritik an einem Land, dessen Leitfiguren mit der Wahrheit allenfalls unter Lebensgefahr herausrücken? Ein möglicher Trost. Aber der Weg dahin ist steinig.

In 19 Berliner Kinos, OV im Cinemaxx Potsdamer Platz und CineStar Sony-Center

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