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Kleine Geldgeschenke erleichtern die Einwanderung. Nach einigen Jahren Investorenvisum ist der Pass in Reichweite. Aber welche Zukunft hat das englische Modell?

© Alamy Stock Photo/Mauritius

Mehrstaatigkeit: Die Staatsbürgerschaft wird instrumentalisiert

Einbürgerung als staatliches Geschäftsmodell und als Freibrief für reiche Zocker: Warum der Doppelpass kein Zaubermittel für demokratische Teilhabe und Integration ist. Ein Kommentar.

In Deutschland leben mehrere Millionen Doppelstaatler. Nicht nur EU-Bürger, sondern auch andere Ausländer durften ihre ursprüngliche Staatsangehörigkeit nach der Einbürgerung behalten. Angeblich trägt das zur besseren Integration bei. Angesichts der Terroranschläge und der Mobilisierung der Erdogan-Anhänger in Köln wird nun die Loyalität der Doppelstaatler gegenüber der Bundesrepublik zunehmend problematisiert.

Mehrstaatigkeit fördere mitnichten die Integration, schrieb Jakob Augstein in seiner „Spiegel“-Kolumne, sie verhindere diese eher und führe die Bindung von Staat und Bürger ad absurdum. „Nur wer den Bürger als Konsumenten sieht und den Staat als Dienstleister, für den machen mehrfache Staatsbürgerschaften tatsächlich Sinn. Sie vereinfachen das Leben.“ Jürgen Trittin sieht diese Debatte ausschließlich gegen die Türken gerichtet und wittert Rassismus. „Sie werden pauschal für die autokratische Politik der türkischen Regierung in Haftung genommen. Ihnen wird mangelnde Loyalität gegenüber der Verfassung unterstellt. 40 000 Demonstranten in Köln bejubeln einen Autokraten – und 530 000 deutsche-türkische Doppelstaatsbürger müssen zum Loyalitätstest. Wer gegen Erdogan ist, gibt seinen türkischen Pass ab?“

Freilich hat Augstein in einer Hinsicht recht. Staatsbürgerschaft scheint immer weniger mit der „Nation als Solidargemeinschaft“ zu tun zu haben, die von Ernest Renan als „alltägliches Plebiszit“ bezeichnet wurde. Und das ist keinesfalls nur ein Spezifikum Deutschlands, in dem ein Bekenntnis zur Nation aus historischen Gründen unter dem Verdacht der Deutschtümelei steht. Bei allen Unterschieden entwickeln sich die Einbürgerungspraktiken in verschiedenen EU-Ländern in eine ähnliche Richtung.

Handel mit Investorenvisa

Gibt man bei Google die Begriffe „Einbürgerung, Staatsangehörigkeit“ auf Russisch ein, dann kommen als Erstes Geschäftsangebote der Vermittler. Sie klären potenzielle Käufer über den Erwerb der Staatsangehörigkeit in verschiedenen europäischen Länder auf. So floriert in Großbritannien, Spanien, Portugal, Ungarn und Griechenland der Handel mit Investorenvisa.

Ein dreijähriges Investorenvisum ist bei Briten für eine Million Pfund zu haben. Dessen Verlängerung hängt vom Umfang der Investitionen ab: Bei über zehn Millionen Pfund sind das zwei Jahre, bei fünf bis zehn Millionen Pfund drei Jahre. Nach fünf Jahren darf der Resident die britische Staatsangehörigkeit beantragen. Britische Rechtsordnung, Bildung und Sicherheit werden in Russland so sehr geschätzt, frohlocken die Anbieter, dass seine Bürger in Londoner Geldinstituten angeblich zwischen 500 und 800 Milliarden Pfund halten.

Vor Kurzem hat auch Malta ein ähnlich lukratives Geschäftsmodell entwickelt. Wer eine Million Euro investiert, darf Staatsbürger werden, berichtet „Der Spiegel“. Seit dem Inkrafttreten des „Individuellen Investorenprogramms“ 2014 habe der Inselstaat 900 Menschen eingebürgert und damit 200 Millionen Euro eingenommen. Die meisten Bewerber kämen neben Russland aus China, Nahost und Südostasien. Der EU-Pass garantiert ihnen Zugang zum Schengenraum und Sicherheit für ihren oft zwielichtigen Reichtum. In zwei Jahren will Malta 1800 Pässe verkaufen, die dem Staat 1,8 Milliarden Euro einbringen würden: zirka 4200 Euro pro Kopf der Inselbevölkerung. In der EU sei man, so heißt es, über die „Praktiken einer Bananenrepublik“ verärgert, könne aber nichts dagegen tun, denn die Einbürgerung sei eine Domäne souveräner Staaten.

Hoffnung auf neue Wahlklientel

Der Verkauf der Staatsangehörigkeit an reiche Ausländer ist nicht die einzige Form der Instrumentalisierung der Staatsbürgerschaft in der EU. In Rumänien dürfen Moldauer nach einem vereinfachten Verfahren eingebürgert werden, ohne Sprachkenntnisse vorweisen zu müssen. 2014 schätzte der rumänische Präsident Traian Basescu die Zahl potenzieller Antragsteller auf ein Viertel der 3,6 Millionen Moldauer.

Die großzügige Vergabe der rumänischen Staatsangehörigkeit in den Anrainerstaaten verfolgt mehrere Ziele: Neben der wenn auch symbolischen Wiederherstellung Großrumäniens in den Grenzen vor 1940 hofft die Regierungspartei auf neue Wahlklientel und Linderung des Fachkräftemangels. Mehr Einwohner versprechen zudem mehr EU-Mittel.

Auch Ungarn hat 2010 ein Gesetz verabschiedet, das 2,5 Millionen Auslandsungarn, darunter 1,5 Millionen in Rumänien, die doppelte Staatsangehörigkeit in Aussicht stellt. Mit dieser Entscheidung, die Unmut in den Anrainerstaaten ausgelöst hat, wollte die Regierung Orbán zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Neben der Linderung des Trianon-Traumas – Ungarn hatte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zwei Drittel seines Territoriums verloren – setzte die Regierungspartei Fidesz auf die Wahlzettel der Neubürger. Bereits im April 2014 durfte die im ukrainischen Transkarpatien lebende ungarische Minderheit an den ungarischen Parlamentswahlen teilnehmen, obwohl die doppelte Staatsangehörigkeit in der Ukraine verboten ist.

Es ist überflüssig zu sagen, dass die auf diese Weise erworbene Staatsangehörigkeit nichts mit bürgerlicher Teilhabe, Loyalität gegenüber dem Staat und Solidarität zu tun hat. Die politischen Führungsgruppen in den EU-Staaten gewinnen dankbare Neuwähler und Einfluss in den Anrainerstaaten. Zugleich erlauben sie Millionen von Menschen von jenseits des Schengenraumes, an dessen Wohlstand teilzuhaben. Der Pass eines EU-Staates wird so zur Arbeitserlaubnis und Versicherungspolice – sie ist kein Zauberstab der Integration.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war Deutschland, wie viele andere europäische Staaten, deren Minderheiten vernichtet oder über die Grenzen geschafft worden waren, zu einem bevölkerungsmäßig homogenen Gebilde geworden. Arbeitsmigration ließ jedoch seit den 50er Jahren neue Diasporen entstehen: eine italienische, jugoslawische und muslimisch-türkische. Nach der Wende kam es zu einer Masseneinwanderung von Russlanddeutschen und zum Zuzug jüdischer Kontingentflüchtlinge aus den Republiken der ehemaligen Sowjetunion.

Zu Sowjetzeiten wurden Emigranten bei der Ausreise ausgebürgert. Seit Gorbatschow durften alle ihre Staatsangehörigkeit behalten. Laut deutschem Staatsangehörigkeitsgesetz darf ein Ausländer eingebürgert werden, wenn er „seine bisherige Staatsangehörigkeit aufgibt oder verliert“. Tendenziell will der Gesetzgeber die Mehrstaatigkeit beschränken. Doch parteipolitische Interessen und aus Multikulti-Vorstellungen und Schuldkomplex gespeiste sachfremde Argumente verhinderten eine klare Antwort. Großen Gruppen wie Spätaussiedlern, jüdischen Kontingentflüchtlingen sowie Türken gelang es, ihre ursprüngliche Staatsangehörigkeit bei der Einbürgerung zu behalten. Dadurch wurden sie „gleicher“ als jene Ausländer, die nicht zu diesen Gruppen gehörten.

Loyalität - ein schlechter Witz

Zwei Aspekte der doppelten Staatsangehörigkeit kamen dabei zum Vorschein. Einerseits erleichtert sie den Sozialbetrug von Leistungsempfängern, die Eigentum in der Heimat haben. Andererseits hat Deutschland nun zahlenmäßig bedeutende Minderheiten, deren Herkunftsländer eine autoritäre und revisionistische Politik betreiben. Nicht ohne Erfolg instrumentalisieren sowohl Ankara als auch der Kreml diese Diasporen für ihre machtpolitischen Interessen. Dass der Doppelstaatler in beiden Heimaten wählen darf – in der einen rechts, in der anderen links, in der einen die AKP, in der anderen die Linke –, führt die Frage der Loyalität ad absurdum. Besonders heikel wird der Interessenkonflikt bei Doppelstaatlern, die politisch wichtige Ämter bekleiden.

Quer durch Europa lässt sich diese Praxis beobachten, freilich nicht immer in der exzessiven Form wie auf Malta oder in Großbritannien, die zusammen mit Zypern zu Offshore-Zonen der Einbürgerung geworden sind. Bald nutzt die politische Klasse die Staatsbürgerschaft, um sich persönlich zu bereichern, bald um mittels einer wundersamen Vermehrung der Bevölkerungszahl die Staatskassen zu füllen.

Die Instrumentalisierung der Neubürger als Klientel der großen Parteien hatte sogar Helmut Kohl im Auge, als er die in Massen eingewanderten Spätaussiedler als Wahlvieh für die CDU zu nutzen gedachte. Diese pragmatische, wenn nicht zynische Einstellung zur Staatsbürgerschaft hat Folgen. Der Staatsbürgerschaft kommt der Bürger abhanden. Der Citoyen wird zum Auslaufmodell.

Die Autorin, 1951 in Moskau geboren,ist Biologin, Schriftstellerin und Publizistin. Seit 1986 lebt sie in Berlin. Zuletzt erschien 2013 „Kaltzeit – Ein Klimaroman“.

Sonja Margolina

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