zum Hauptinhalt
Berlin hat Energie. Wo fließt sie hin?

© Undine Adamaite

Mein Berliner Tagebuch: Kein falscher Tourist, aber nicht richtig heimisch

Undine Adamaite ist Kulturjournalistin aus Riga in Lettland - gerade hospitiert sie beim Tagesspiegel. Hier schreibt sie über ihre Eindrücke aus einer Stadt, in der alle joggen, aber niemand sich sputet.

Von Undīne Adamaite

Aus dem Lettischen von Felix Lintner, Riga.

Zwanzig Tage in einer fremden Stadt sind ein seltsamer Zwischenzustand: Man ist kein richtiger Tourist, gehört aber auch nicht ganz dazu. Vielleicht ist das ein guter Moment, um etwas zu entdecken – ähnlich dem Zustand zwischen Schlaf und Wachsein. Ich nehmen am Journalistenaustausch Nahaufnahme des Goethe-Institus teil; das Projekt sieht vor, dass ich über meine Eindrücke in Berlin schreibe, aus meiner Perspektive als Kulturjournalistin aus Lettland. Das hört sich ambitioniert an. Deshalb kehre ich die Vorzeichen um: Ich bin gespannt, was Berlin Unerwartetes in mir selbst und aus der Ferne in der lettischen Kultur erhellt.

Mein erster Kontakt mit Deutschland fand irgendwann in den Achtzigern statt, als ich mit der Tanzgruppe Bienchen zu Gast war, natürlich im „demokratischen” der beiden Deutschlands. Ich erinnere mich, wie meine Mutter versuchte, mir die Teilung Deutschlands zu erklären und aus der Ferne auf die jetzt demontierte und als Souvenirs verkaufte Mauer zeigte, vor der im Gras Kaninchen herumsprangen. Die Idee verstand ich nicht ganz, aber die Kaninchen gefielen mir. Später, als ich darüber nachdachte, begriff ich auch die Idee – aha, genau wie bei uns – im damaligen sowjetischen Lettland! Die einen deutschen Kinder haben tolle Importwaren - Kaugummis und echte Sneakers –, aber die anderen, solche wie ich, traurige Imitate ohne die richtige Federung und das echte Weiß.

Die Koordinatorin des Projekts hat mich im Heinrich Heine-Hotel untergebracht. Leider gehöre ich einer Generation an, die in der Schule nun nicht gerade Gedichte von Heine zu lesen bekam. Es ist mir unangenehm, aber ich möchte erzählen, was wir anstelle der Gedichte von Heine gelernt haben: In der Kunststunde habe ich einen Soldaten gezeichnet, der auf der Spitze seines Bajonetts ein Nest mit einer Friedenstaube trug und ein kleines Mädchen an der Hand hielt. Natürlich mit hellen Haaren. Natürlich mit blauen Augen. Andere haben wir nicht gezeichnet. Und das Schlimmste war, mir selbst gefiel dieses albtraumartige, propagandistische Klischee sehr. Ich war sogar stolz auf das Ergebnis.

Wollen Sie es noch absurder? In den siebziger Jahren wurden in den sowjetischen Schulen in Lettland gute Kinder in den „A”-Klassen unterrichtet; sie durften Englisch lernen. In die Klassen „B” und „C” wurden die unangenehm auffallenden Kinder und solche mit schlechten Leistungen gesteckt. Sie mussten Deutsch lernen. Damals hat niemand daran gedacht, dass man einmal eine Sprache nicht nur der Noten wegen lernen, sondern sie tatsächlich anwenden würde. Wahrscheinlich wird mir erst jetzt, während des Schreibens, meine monströse Schulerfahrung richtig bewusst. Ich war übrigens eine gute Schülerin und spreche daher leider kein Deutsch. Obwohl die Berliner Mauer heute nicht mehr steht und Lettland wieder unabhängig ist, habe ich immer noch Vorurteile der deutschen Sprache gegenüber. Das ist für viele Menschen charakteristisch, die eine sowjetische „Kinderstube” hatten. Doch jetzt, da ich in Berlin bin, möchte ich den Weg zur deutschen Sprache finden. Im Heinrich-Heine-Hotel sage ich der Köchin immer: „Das Essen ist wunderbar.” Oder: „Sie kochen großartig.” Aber das Wort, mit dem sie ihr Omelett bezeichnet, bringt mich zur Verzweiflung. Wir lachen beide. Als ich auf dem Frühstückstisch die auf den Servietten gezogenen Linien mit der Aufschrift „Die Inspiration kann Dich jeden Augenblick ergreifen” bemerke, kommt mir die Idee, ein Berliner Tagebuch zu schreiben: Notizen auf Servietten, kleine Momente des Lebens, die mich in irgendeiner Weise überraschen. Der Adressat ist Heinrich Heine.

Döblins "Alexanderplatz" auf Lettisch

Gekachelte Schönheit: Der U-Bahnhof Alexanderplatz.
Gekachelte Schönheit: Der U-Bahnhof Alexanderplatz.

© Undine Adamaite

Samstag. Alexanderplatz.

Als in Lettland Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz auf Lettisch erschien, wusste ich noch nicht, dass ich am Journalistenaustausch Nahaufnahme teilnehmen würde.  Ich habe das Buch zu Weihnachten geschenkt bekommen. Die Herausgeber bezeichnen es als „einen der bedeutendsten Großstadt-Romane der Weltliteratur”. Als ich am frühen Morgen meinen Koffer ins Hotel schiebe und versuche, die Sektkorken zu umfahren, die mich daran erinnern, dass das neue Jahr gerade erst begonnen hat, fühle ich mich ein bisschen wie Franz Biberkopf, als er aus dem Gefängnis entlassen wird. Wahrscheinlich ist zu Beginn des Jahres der „internationale Weihnachtsbaumsummit” eines der allgemein menschlichsten Probleme, sprich, wie werde ich meinen Weihnachtsbaum würdevoll los? Man sieht verschiedene Varianten: an Briefkasten gelehnte, anstelle gefällter Bäume in die Erde gesteckte. Wohin trägt nur dieser grauhaarige Mann seine Tanne? Mir ist es unangenehm, ihn so offen zu beobachten....

Der mitgenommene Alexanderplatz pumpert in meiner Tasche und ich hoffe, er wird mein Talisman sein. Später stellt sich heraus, dass die Haltestelle Alexanderplatz auf meiner täglichen U-Bahn-Route liegt. Ich beobachte die Menschen, ein bisschen mit eigenen Augen und ein bisschen mit den Augen von Franz Biberkopf.

In der U-Bahn sitzt eine entzückende Familie. Alle sind dunkelhäutig und tragen viele Zöpfe. Die Kinder strahlen über’s ganze Gesicht. Ich würde die Familie gern fotografieren, denn es sind schöne Menschen. Aber ich traue mich nicht. Ob sie das richtig verstehen würden? Wir sind so tief in der politischen Korrektheit verstrickt, dass wir schwarz als weiß und weiß als schwarz bezeichnen, und die Dinge nicht mehr bei ihren Namen nennen. So fotografiere ich möglichst unauffällig, wie zufällig, meine Stiefel. Und das geschieht mir auch recht so. Vielleicht hätte ich einfach die Mutter um Erlaubnis fragen sollen.

Sonntags ist Ruhe

Eine der ältesten katholischen Kirchen in Berlin: die Sankt-Michael-Kirche.
Eine der ältesten katholischen Kirchen in Berlin: die Sankt-Michael-Kirche.

© Undine Adamaite

Sonntag. An der Michaelkirche

Ich bin etwas früher nach Berlin gefahren, um mich zu akklimatisieren. Um den Rhythmus zu synchronisieren. Ich erlebe meinen ersten Kulturschock – und die Berliner Leichtigkeit des Seins.

Ich öffne alle Fenster meines Hotelzimmers, die Glocken der Michaelikirche läuten. Ein anderer Anblick: die zeitlosen, harmonischen Konturen der Kirche inmitten von Plattenbauten. Später komme ich zum Schluss, dass solch eine “Montage” für Berlin typisch ist. Wenn man die Geschichte kennt: folgerichtig. Die Kirche ist leider geschlossen. Neben ihrem Eingang befindet ein Lager mit Schlafsäcken. Ich habe aber nicht den Mut nachzusehen, ob dort jemand schläft. Was würde ich sagen? Nicht, weil ich kein Deutsch spreche. Dafür fehlen mir in jeder Sprache die Worte. Gleich nebenan, im Erdgeschoss des Plattenbaus, befindet sich das Rote Kreuz. Vielleicht sollte ich Bescheid sagen? Naiv? Was würden die echten Berliner machen?

Ich beschließe,  es mir richtig gemütlich zu machen und mir wie eine echte Berlinerin ein warmes häusliches Essen zu “schmoren”. Doch vor dem Geschäft stehe ich vor geschlossenen Türen. Es ist kein Tante-Emma-Laden, sondern ein normaler Lebensmittel-“Markt”. Mein erster Kulturschock! Meine egozentrische, primitive Verärgerung, die ich im ersten Augenblick empfinde, verschwindet bald, und ich werde zur überzeugten Fürsprecherin dieser großartigen Übereinkunft. Ich fahre zu den zentralsten Orten in Berlin. Auch um den Zoo herum ist alles still. Es sind nur wenige Menschen unterwegs: Ein paar Eltern mit ihren Kindern, die spazieren gehen oder eine Veranstaltung besuchen. Einige Paare sind auf dem Weg in die C/O-Galerie.  Ich bin überrascht, in einer Metropole etwas zu sehen, das ich schon lange nicht mehr erlebt habe: Sonntagsruhe. Ein Gefühl der Genügsamkeit. Das ist nicht das Wort, das man im Zeitalter der globalen Hypermärkte oft verwendet, nicht wahr?

In Lettland werden zur Zeit heiße Debatten darüber geführt, ob die Geschäfte sonntags geschlossen bleiben sollten. Aber es scheint, die Gesellschaft ist dafür noch nicht reif genug. Zu nah sind noch die Zeiten, als man in den Geschäften entweder gar nichts, oder alte, hässliche und verschimmelte Dinge kaufen konnte.

Joggen und joggen lassen

Montag. Die Berliner joggen und sehen anderen beim Laufen zu

Die Berliner joggen. Das fällt sofort ins Auge. Hauptsächlich joggen sie in Paaren. Und leben die Leichtigkeit des Seins.

Gerade, als ich denke, dass man sich zum Joggen vielleicht nur durch ein romantisches Gefühl geleitet überwinden kann, taucht um die Ecke eine Herde Jogger auf, ungefähr fünfzehn Personen. Sie laufen so schnell, dass ich es gerade so schaffe den „Schwanz” der Läuferherde zu fotografieren. Das Laufen zeigt Resultate. Es sieht so aus, als sei das globale Problem der Verfettung nicht wirklich aktuell. Ich könnte auch joggen. Es scheint, dass man in Berlin alles Mögliche tun könnte, was das Herz wünscht, solange es niemanden stört. Hier sehe ich auch mehr als anderswo Freaks, gealterte Punks und Hippies.

Vielleicht gelingt es mir in diesen zwanzig Tagen, den totalen Demokratismus Berlins, den die Berliner selbst als ihre „multinationale Identität” bezeichnen, besser zu verstehen. Warum fühlt man sich in dieser Stadt so gut? Warum ist das Dasein so leicht und einfach? Ich spreche natürlich immer noch über die elementaren Eindrücke, die ich auf der Straße bekomme. Berlin sorgt dafür, dass ich mich nicht einen Augenblick als Tourist fühle. Sei wer du bist, wenn du nur weißt, wer du bist. Vielleicht ist ein Grund dafür der, dass sich die Menschen sehr einfach kleiden, genauer gesagt funktional. Sie kleiden sich, um zu leben, und leben nicht, um sich zu kleiden. Ich habe den Eindruck, - ich weiß nicht, ob das eine Illusion ist, oder der Realität entspricht - dass die Berliner ihre Energie auf andere Dinge verwenden.

Der erste Tag in der Redaktion

Dienstag. Beim Tagesspiegel 

Der Tagesspiegel hat ein hervorragendes Motto: rerum cognoscere causas / Die den Dingen auf den Grund gehen. In der Kulturredaktion erlebe ich meinen zweiten Kulturschock, diesmal einen professionellen.

Ich habe geahnt, dass es so sein könnte, aber es mit eigenen Augen zu sehen und zu hören, ist eindrucksvoller. In der Kulturredaktion des Tagesspiegels arbeiten im Moment elf Kritiker: Kunstwissenschaftler, Musikwissenschaftler, Historiker, Theater- und Filmkritiker. Bei Diena sind es halb so viele, und die Hälfte von ihnen ist noch mit Redaktionsarbeiten beschäftigt. Sie arbeiten mit freien Autoren zusammen. Im Durchschnitt schreibt jeder von ihnen einen Artikel pro Woche für die Tageszeitung. Eine der Kunstkritikerinnen sagt, dass „die Menschen verschiedene Schreibgeschwindigkeiten haben”, was respektiert würde. In der Redaktion von Diena ist das Internet zweifellos schneller, und die Computer sind moderner, doch solch einen Luxus, dass man eine Woche an einem Artikel schreibt, ist leider für keinen Autor vorstellbar. Der Tagesspiegel hat keine extra Kulturbeilage (die Kulturjournalisten der Diena kreieren auch den Inhalt der wöchentlichen Beilage KDi). Währenddessen wird dieses riesige intellektuelle Potenzial des Tagesspiegels für Artikel auf den tagtäglichen Zeitungsseiten genutzt.

Die Redaktion des Tagesspiegels überrascht auch angenehm mit einer ungewöhnlichen Stille. Es gab lange Momente, in denen nur der solidarische Chor des Tastaturklimperns zu hören war und einige Kollegen sprachen sogar nur flüsternd miteinander. Ich erkenne, dass wir bei Diena es mit dem Prinzip der offenen Redaktion seinerzeit mächtig übertrieben haben. Hier kann jede Abteilung die Tür hinter sich schließen und in den Grenzen ihres Raumes offen sein.

In der Kulturredaktion des Tagesspiegel werde ich überzeugt, dass man das Recht auf Stille als ersten Punkt in die Menschenrechte von Journalisten (besonders von Kulturjournalisten und Kritikern) aufnehmen sollte.

Aus dem Lettischen von Felix Lintner, Riga.

Der Tagesspiegel beteiligt sich am journalistischen Austauschprojekt "Nahaufnahme" des Goethe-Instituts, bei dem Redakteure aus Deutschland und anderen europäischen Ländern für jeweils zwei bis vier Wochen ihren Arbeitsplatz wechseln. Undine Adamaite von der Tageszeitung "Dienas Mediji" in Riga ist drei Wochen lang zu Gast beim Tagesspiegel. Im Gegenzug schreibt Tagesspiegel-Mitarbeiter Nik Afanasjew im Februar für "Dienas Mediji". Weitere Informationen finden Sie unter: www.goethe.de/nahaufnahme

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false