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Kultur: Mein liebster Feind

Sonny Rollins gibt im Berliner Tempodrom ein furioses Konzert

Nehmen wir das Ende vorweg: Der Schlussakkord ist eben verebbt, da stürmen die Fans im tosenden Jubel zur Bühne, recken Plattencover und Stifte in die Höhe, versuchen ein Autogramm zu ergattern. Kein Geringerer als der letzte Heroe des modernen Jazz steht da oben: Sonny Rollins. Fast zwei Stunden hat er das Tempodrom beackert, hat mit hartem, riesigem Saxofonklang am Zeltdach gerüttelt, hat jede Note mit ungeheurer Kraft aus dem Horn gestoßen. Doch man hätte ihm besser zuhören sollen, als er die Komposition „Here’s To The People“ ankündigte. Das hatte nichts von friedfertiger Demokratie, es war ein Frontalangriff, den in seiner Gigantomanie kein anderer gewagt hätte.

Gary Giddins, Jazzkritiker der New Yorker „Village Voice“, hat über Rollins einmal treffend bemerkt: „Nur zwei Saxofonisten haben ihn ernsthaft herausgefordert: John Coltrane, für einen kurzen Moment, und Sonny Rollins, unablässig.“ Das Problem des 72-Jährigen: Er war noch keine 30 Jahre alt, da hatte er einige der vollkommensten Saxofonplatten der Jazzgeschichte aufgenommen. Rollins zog sich deshalb immer wieder für längere Zeiträume zurück. Klar abgegrenzte Schaffensphasen markieren sein Werk. Seit den Siebzigern befinden wir uns in der „Milestone“-Periode, benannt nach seiner Plattenfirma. Kein sonderlich ruhmreiches Kapitel, denn Rollins ist streitbar geworden. Von 1972 bis 1996, bis zur Platte „Plus 3“, hat er kein einziges überzeugendes Album zu Stande gebracht. Auch sein Ruf als unerreichter Live-Musiker hat gelitten. Wehe, wenn er nicht in Form ist. Dann verbeißt er sich zwanghaft in einzelne Motive und verlässt auch mal vorzeitig die Bühne.

So geschehen bei seinem letzten Berlin-Konzert 1974: Sonny Rollins, ausgebuht. Diesmal hatte Berlin mehr Glück. Freigiebig ließ Rollins das Publikum an seinem Denken teilhaben. Immer wieder setzte er in „East of the Sun“ zu Schlussfloskeln an, konnte sich aber nicht trennen von dem Stück. Kaum nahte der Schlussakkord, kamen ihm wieder neue Ideen. Er musste sie einfach spielen, und schon schlossen sich weitere Assoziationen an. Sonny Rollins im Rausch, über zehn Minuten am Stück: Intensiveren Jazz wird man so schnell nicht hören.

Da kann man getrost über die chronischen Probleme seiner Band hinwegsehen. Warum spielt Bob Cranshaw, seit 40 Jahren Rollins‘ Unterstützer, eigentlich E- statt Kontrabass? Warum begleitet die Band oft mit der Fortune einer Kaffeehaus-Combo? Warum merkt der Perkussionist Kimati Dinizulu nicht, dass seine Conga-Einlagen von den Jazz-Balladen wie Fremdkörper abgestoßen werden? Geschenkt, geht es hier doch nur um Rollins. Und wie er mit dem Rhythmus jongliert, ihn in den Stakkato-Passagen beinahe fallen lässt und in punktierten Figuren rückwärts wendet und seine Ideen schlicht überwältigt und in die Chromatik entführt.

Am Ende ist Rollins sichtlich erschöpft. Doch den Kampf hat er gewonnen: gegen die Nostalgie der Zuhörer, gegen den genialen Sonny Rollins der fünfziger Jahre.

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