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Kultur: Meine Bilder atmen für mich

Als Kind floh Max Wechsler vor den Nazis nach Paris. Jetzt wird der Maler mit einer Ausstellung geehrt

Er konnte nicht viel mitnehmen, als seine Eltern ihn im Januar 1939 am Anhalter Bahnhof in einen Zug setzten. Einen Koffer, einen Mantel. Bloß keine Umstände machen. Er reiste in Begleitung eines Mannes, der sich im Notfall als sein Onkel ausgegeben hätte. So entkam der 13-jährige Max Wechsler, Sohn eines jüdischen Angestellten, nach Paris. „Mir war bewusst“, sagt der Weißhaarige heute, „dass das eine echte Trennung war.“ Seine Eltern hat er nie wieder gesehen. Etwas aber hatte er immer dabei. Ein Licht, sagt er. Ein graues, fahles Licht. Das hat ihm die Stadt seiner Kindheit mitgegeben.

Dieses spezielle diffuse Graulicht findet sich auf vielen Bildern, mit denen Max Wechsler nun als Künstler nach Berlin zurückkehrt. Für den 81-Jährigen ist es der Inbegriff eines „verlorenen Paradieses“. Es mag furchtbar sein, aus einer Stadt fortgerissen zu werden, die einem Kind Geborgenheit vermittelt, während diejenigen, die man am meisten liebt, aus unerfindlichen Gründen zurückbleiben. Für Wechsler hat sich die Sehnsucht nach dem Verlorenen für immer grau gefärbt.

„Wenn ich in Spanien geboren wäre wie Picasso, würde ich vielleicht auch blaue, rote oder rosafarbene Bilder malen.“ Max Wechsler sagt es ohne Bitternis. Es hat lange gedauert für ihn zu begreifen, dass er mehr als Schwarz und Weiß nicht braucht, und die vielen Schattierungen und Graustufen, die sich als das Erbe einer kindlichen Empfindung wie Schleier seiner Bilder bemächtigen und die ihm dennoch künstlerische Freiheit schenken. „Ich bin kein Minimalist“, erklärt er, „kein Vertreter des Abstrakten. Ich bin Flächenmaler, der sich mit der Fläche beschäftigt und mit dem, was aus ihr hervorgeht.“

Wechslers Werk wird zum ersten Mal in Berlin in einer Einzelausstellung präsentiert. In der Villa Oppenheim an der Charlottenburger Schloßstraße hängen etwa zwei Dutzend „Papiers marouflés“, (auf)geleimte Papiere, wie er seine monochromen Arbeiten nennt, die entfernt an den Abstrakten Expressionismus erinnern und aussehen, als wäre eine Walze über zerknüllte Papierfetzen gerollt. Vorgängern wie Mark Rothko fühlt sich Wechsler in dem Bestreben nach einer spirituellen Dimension auch durchaus verbunden. Religiöses Pathos ist ihm fremd. Wechsler male „nicht irgendwelche Dinge“, befand der Schriftsteller Maurice Benhamou, „er malt absolut.“ Seine granitschwarzen bis graupelweißen Großformate sind so weit in die Gleichförmigkeit vorgetrieben, dass sie kein Zentrum, keinen Rand haben, kein Oben oder Unten. Von ihrem Rohstoff, einem Meer beliebig ausgestreuter, zerstückelter Buchstaben, bleiben nur Muster übrig. In jedem Quadratzentimeter spiegelt sich das Ganze. Statt von der Struktur seiner Werke spricht Wechsler von „Atem“ und „Rhythmus“. Aber eigentlich spricht er überhaupt nicht gerne. Das hat vor 67 Jahren angefangen.

Als Max Wechsler in Paris ankam, war er gerettet. Doch nur kurz. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und der Besetzung von Paris 1940 schwebte der jüdische Knabe wieder in Lebensgefahr. Er wurde wie viele andere von der Résistance in Kinderhäusern versteckt – und sprach nicht mehr. Da er des Französischen noch nicht mächtig war und jedes deutsche Wort ihn verraten hätte, war er zur Sprachlosigkeit verdammt. Wie qualvoll das zunächst für ihn gewesen sein muss, und ob die Schweigsamkeit ihm irgendwann sogar angenehm war, kann und will er nicht sagen. „Sehen Sie“, sagt er stattdessen und spreizt seine Arme in Richtung der Bilder, die an den Wänden des ehemaligen Sommersitzes der Mendelssohn-Familie hängen: „Die Einsamkeit und Stille, sie liegt da drin.“

Das ist mehr als eine Geste. Trotz seines Alters wirkt Wechsler jugendlich und behände, nicht um Antworten verlegen. Er trägt einen dicken Rollkragen-Pullover, Jeans und Turnschuhe. Sein Deutsch hat einen starken französischen Akzent, und oft neigt er sich seiner Dolmetscherin zu, um einzelne Begriffe genauer zu fassen. Doch von ihm, dem Holocaust-Überlebenden, eine Geschichte zu erwarten, läuft ins Leere: „Ich komme immer wieder zu der Erkenntnis, dass man so vieles, was essentiell wäre, nicht erzählen kann.“ Nach einer Pause fügt er – in den Spuren von Wittgensteins Sprachkritik – hinzu: „Was im ausgesprochenen Wort begrenzt ist, kann nur schweigend ausgedrückt werden.“

Das ist auch das Credo seines Werks. Wechsler ist Autodidakt, eine Hochschule hat er nie besucht. Nach Kriegsende, das er in der Obhut einer kommunistischen Familie erlebte, wurde er Soldat in der französischen Armee. Bald lernte er in Paris Leute kennen, die sich wie er vom Künstler-Dasein fasziniert zeigten. Art informel war die Pariser Kunstströmung der Stunde. Wechsler wurde Maler.

Die Anerkennung kam erst vor zehn Jahren. Dabei hatte ihm nach einer großen Ausstellung 1969 im Museum für Moderne Kunst von Paris der Weg offen gestanden. Aber er beschritt ihn nicht. Seine vom Surrealismus geprägten Ölgemälde – an jedem einzelnen arbeitete er mehrere Monate – seien zu „verkopft“ gewesen, „in der Trauer gefangen“, sagt er heute. Er stieß sie von sich. 1973 hörte er ganz auf zu malen.

Dann, 1983, entdeckte Wechsler den Copy-Shop. „In Trauer kann man nicht leben“, verstand er. In der Tristesse allerdings schon. Er begann Buchstaben-Collagen anzufertigen, die er durch den Fotokopierer jagte, „eine technische Lösung, um sofort Resultate zu erzielen“. Seitdem vergrößert, verkleinert, montiert Wechsler in schneller Folge ausgerissene Textfragmente und Schriftzeichen, verleimt sie zu einem undurchdringlichen Mosaik. In diesen Urzellen der späteren Großbilder wird Sprache vernichtet. Sie wird aufgerieben in einem Prozess, aus dem Bilder schwer wie Grabplatten, luftig wie Gardinen hervorgehen. Der Buchstabe, sagt er freundlicher, habe eine Seele, mehr bleibe von ihm nicht übrig.

Einmal, bei einem früheren Berlinbesuch, ist Max Wechsler die Straßen rund um den Bayerischen Platz abgeschritten, wo er aufwuchs. Die Häuser von einst waren verschwunden. Doch fand er all die Wege und Pfade aus seiner Kindheit wieder. Aber, winkt er ab, „man sollte ein bisschen weniger sprechen, ich auf alle Fälle.“

„Unter der Oberfläche“, Villa Oppenheim, Schloßstr. 55, Charlottenburg, bis 5. März. Di – Fr 10 – 17 Uhr, So 11 – 17 Uhr.

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