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Kultur: Meine Sprache: Rudolf Walter Leonhardt spricht, schreibt, liest und versteht Deutsch

Stellen Sie sich vor, Sie würden gefragt: Welche Sprachen können Sie? "Können?

Stellen Sie sich vor, Sie würden gefragt: Welche Sprachen können Sie? "Können?" Wohl nicht einmal Deutsch. "Können" kann man so nicht sagen. Falsch; anders geht es nicht; es gibt kein deutsches Wort, das auch nur die wichtigesten Unterschiede deutlich machte. Die Frau Doktor hatte sich einen Spaß daraus gemacht, die Fragen beim Wort zu nehmen und sie genau zu beantworten. Sie wusste, dass ihre Antwort mich verblüffen würde. Zugegeben: Ihr Fall ist nicht jedermanns Fall. Aber es ist auch nicht konstruiert.

"1. Ich spreche Deutsch. 2. Ich verstehe Deutsch. 3. Ich schreibe Deutsch. 4. Ich kann Deutsch lesen."

Aber das ist doch eine Sprache. Die können Sie doch nicht viermal zählen.

"Bei Deutsch nicht. Japanisch spreche ich ganz gut - mein Beruf als Reiseführerin verlangt das -, aber ich kann es nicht schreiben. Schwedisch hingegen kann ich lesen, denn ich liebe die skandinavische Literatur und mag Übersetzungen nicht. Ich verstehe viele italienische Opern und Gedichte, schreiben könnte ich sie nie."

Nun ja, wenn ich so zählte, käme ich vielleicht auch auf zehn Sprachen. Mit "eine Sprache können" meinen wir: Sie sprechen, verstehen, schreiben und lesen können.

"Meinen Sie? In meinem Beruf werden drei Fremdsprachen verlangt. Da sollten Sie einmal bei den Prüfungen dabei sein und hören, was sich die Kandidaten alles unter Sprachkenntnissen vorstellen. Wären wir nicht oft sehr gnädig, dann hätten wir bald keinen Nachwuchs mehr."

Was also ist zu machen?

"Wir haben ein Punktsystem auf aufgestellt: perfekt (wenn auch nicht akzentfrei) 10 Punkte, mehr als Schulkenntnisse 6 Punkte, gute Schulkenntnisse 4 Punkte, schwache Kenntnisse 1 Punkt. Unter 20 läuft nichts."

Latein und Griechisch gelten nicht?

"Latein wird nicht geprüft. Neugriechisch ist sehr begehrt. Da haben wir meistens Griechen."

Wie sind Sie selber eigentlich zu all Ihren Sprache gekommen?

"Deutsch ist meine Muttersprache. Französisch ist die Sprache meines Ehemannes. In Nordamerika waren wir oft, und meine Kinder sind dort zum College gegangen. Spanisch ist eigentlich die einzige Sprache, die ich richtig schulmäßig gelernt habe."

Sollten Sie, der Sie ja auf jeden Fall Deutsch lesen können, gefragt werden, wie viele andere Sprache Sie schreiben, sprechen und verstehen können, dann lautet die richtige Antwort: Keine Ahnung. Denken Sie an die Punktezählerei. Wäre der Veranstalter nicht klug genug, die Auswahl knapp zu halten (Indianersprachen wie Wakasch oder Araukanisch brächten sowie nichts), dann gingen die Punkte für Fremdsprachen ins Fünfstellige.

Jargons, Regionalsprachen, Sozialsprachen, Fachsprachen, Kunstsprachen kämen noch dazu und endeten im Chaos. Von meiner Reiseführerin, der ich so vieles über Sprache verdanke, stammt auch diese Behauptung: "Ich kann mich mit meiner Familie Viertelstunde lang unterhalten - und Sie verstehen keine zehn Wörter." Trauriger finde ich, dass so viele von uns Latein nicht verstehen. Gewiss, Publius Ovidius Naso ist seit zweitausend Jahren tot. Aber sein Sprache doch nicht. Die "Ars amatoria" ist lebendiger als manches, was heutzutage auf diesem Gebiet geschrieben worden ist.

Alles, was in der Welt ist, ist in der Sprache. Chaotisch war beides, ist beides, und wird beides sein. Der Philologe kann es nicht anders sehen. Deswegen muss es Theologen geben.

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