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Kultur: Meine Wolle, meine Welt

Schaubühnen-Star, Ballhaus-Gründerin, Performancekünstlerin: all das ist Anne Tismer. Jetzt inszeniert sie am Theater Thikwa.

Anne Tismer hat den Film ungefähr 50 Mal gesehen, er begleitet sie bereits seit der Kindheit. „Ich fand die Menschen darin so schön, so entspannt und elegant“, sagt sie und lächelt. Es geht um den Klassiker „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ von Luis Buñuel. Diese surreale Gesellschaftssatire aus dem Jahr 1972 über sechs Angehörige der Hautevolee, die ein Essen im kleinen Kreis planen, das nie zustande kommt. Buñuel beschreibt darin die hohlen Rituale der besseren Bürger, ihre ins Sinnleere schießenden Codes. Aber das war nicht der Ansporn für Tismer, das Traumspiel am Theater Thikwa in eine Kunstaktion zu verwandeln. „Ich komme ja nicht aus einer Gesellschaft, die mit Hass auf die Bourgeoisie blickt“, betont sie. Wie der Großgrundbesitzersohn Buñuel stammt die in Versailles geborene Tismer aus gutsituierten Verhältnissen. Die Performance, sagt sie, „ist für mich auch eine Liebeserklärung an diese Welt“.

Im Theater Thikwa in der Kreuzberger Fidicinstraße, wo behinderte und nicht behinderte Künstler spielen, setzt sich ein Pappmaché-Auto in Bewegung. Getragen von den Darstellern, eine Künstlerin fährt im Rollstuhl darunter her, afrikanische Musik erklingt. Hauptprobe zu „Der diskrete Schwarm der Bourgeoisie“. Auf der Bühne stehen Sofa, Tisch und das Gerüst eines Hauses, von der Decke hängen Planeten aus Draht. Nach Motiven des Films treffen sich ein Colonel, ein Bischof und der Botschafter des fiktiven Landes Miranda zum wiederholten Dinnerversuch, eine Darstellerin ruft den anbetungswürdigen Satz: „Kann ich bitte einen Alkohol haben?“ Dazu wird aus gestrickten Cocktailgläsern getrunken und aus umstrickten Schaumstoffgewehren geschossen.

Wollene Objekte, „das ist grad so ein Tick von mir“, sagt Tismer. Sie selbst wandelt als verhinderte Gastgeberin durch diese Buñuel-Installation, in einem blau gemusterten Kostüm. Alle tragen sie auf der Bühne bunt bedruckte afrikanische Gewänder, gefertigt von der Schneiderin Vicky Ajavon in Togo.

Dort lebt Anne Tismer jetzt, im Süden des Landes. In einfachsten Verhältnissen, als einzige Weiße im Viertel. „Wir haben kein Warmwasser, keinen Kühlschrank, keine Waschmaschine“, erzählt sie. Auf einem Stein mahlen sie Tomaten zu Soße, gekocht wird über Kohle. Immerhin: Im Gegensatz zu den benachbarten Höfen, wo 20 Familien sich die sanitären Anlagen teilen, besitzen sie ein eigenes Haus mit Toilette. Vor einigen Jahren kam Tismer auf Einladung des Goethe-Instituts nach Togo, als erste Performancekünstlerin aus Deutschland. Eine andere Welt. „Niemand würde in Togo Geld bezahlen, um eine Performance zu sehen“, sagt sie. Es gibt in dem Land keine Kunstszene, wohl aber gibt es Künstler, mit denen Tismer zu arbeiten begann. Dass sie ihre Wurzeln schließlich ganz nach Westafrika verlegte, hat private Gründe.

Togo, diese vormalige deutsche Kolonie, ist ein armes Land. Aber es gab hier immer auch Menschen, die zu Reichtum gelangten. Wie in den 90er Jahren die sogenannten Nana Benz, die Mütter mit Mercedes. Stoffgroßhändlerinnen, die mit Waren der holländischen Firma Vlisco handelten. Und die sich vor allem Muster und Geschichten für die verschiedenen Stoffe ausdachten. „Einer hieß ,Mon mari est capable’“, erzählt Tismer, frei übersetzt: Mein Mann hat’s drauf. Ein anderer, „Pomme de divorce“, Apfel der Scheidung. Der wurde im Trennungsfall verschenkt. Wieder ein anderer signalisierte: „Ich habe mit deiner Frau geschlafen“. Die Gewänder, die jetzt Tismer und die Thikwa-Künstler tragen, spielen auf diese Nana-Benz-Stoffe an. In jüngster Zeit sind die wieder verbreitet unter jungen Togoern, „wie bei uns die Jeans“.

Man sollte sich nicht einbilden, afrikanische Verhältnisse leicht durchschauen zu können. Tismer hat diese Erfahrung gemacht, als sie 2008 mit ihrer Performance „Bongani“ in Südafrika gastierte. Die handelte von einem Jungen aus Durban, der verschleppt worden war, wie sie in der Zeitung las. Vor Ort aber bekam sie laufend zu hören, das afrikanische Elend, das sie schildere, sei komplett verzerrt.

Im „Diskreten Schwarm“ flimmert jetzt eine Rede des Aktivisten Aimé Césaire über ein Leuchtband. Der Poet und Politiker aus Martinique, Gründer der Bewegung Négritude, sagt darin sinngemäß, man werfe Hitler nicht die Erniedrigung des Menschen an sich, sondern die Erniedrigung des Weißen vor. Welchen ungeheuerlichen Klang das in Deutschland hat, weiß die Künstlerin, sie identifiziert sich auch nicht damit. „Aber das ist die Sicht vieler Schwarzafrikaner, die ich kenne.“

Die Perspektive verschieben – das ist ein roter Faden in der Arbeit der Anne Tismer, einst gefeierter Theaterstar und Mitbegründerin des Ballhaus Ost. Spätestens, seit sie 2004 dem Künstler John Bock begegnete. Sie nahm an dessen Aktion „Meechfieber“ teil, ein Filmprojekt auf dem Bauernhof. Tismer lernte, Kühe zu melken und Kälber auf die Welt zu holen. Sie hat das 2010 in einem Interview in der „Zeit“ (Überschrift: „Schauspielerei: Ich verachte das jetzt“) als Erweckungserlebnis beschrieben. Der radikale Weg, den sie im Leben und in der Kunst einschlägt, verstört noch immer manche. Sie unternimmt Performances, die „Hitlerine“ heißen oder „Woyzickine“, die eigensinnige Reisen sind, aber nie Egotrips. „Anne Tismer verläppert weiter ihr großes Talent“, lautete eine Zeitungsüberschrift zu ihrem jüngeren Schaffen. Eine andere, etwas wertneutraler: „Anne Tismer kocht einsam im Rangfoyer Schweinskopfsülze“.

Die Künstlerin sitzt nach der geglückten Hauptprobe am Tisch. „Mein Gehirn funktioniert gar nicht so, dass ich in einer Weise denken könnte, die keiner mehr versteht“, antwortet sie auf die Frage, ob sie sich manchmal unverstanden fühle. Dann schwärmt sie von der Zusammenarbeit mit den Kollegen von Thikwa, die ja eigentlich Bildende Künstler seien, von denen manche ein fotografisches Gedächtnis besäßen. Die Zusammenarbeit währt schon einige Jahre, „das ist die Richtung, die ich verfolgen will“, sagt sie. Zuletzt entstand in Mainz „Plastik-Gespenst der Freiheit“, eine Bearbeitung der „Milchstraße“ soll noch folgen, damit schlösse sich der Kreis der Buñuel-Trilogie.

Die Premiere des „Diskreten Schwarms“ wird ein großer, absurd komischer Erfolg. Vor 90 Zuschauern. Wünscht sie sich nicht manchmal, mehr Menschen zu erreichen? Anne Tismer schaut zum ersten Mal etwas irritiert. „Ich kann meine Kunst nicht so machen, dass sie möglichst vielen gefällt“, sagt sie. „Das wäre nicht mehr ehrlich.“

Theater Thikwa, 26.1. und 29.1. bis 1.2.

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