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Zwischen den Welten. Gustav Mahler auf seiner letzten Passage zwischen Amerika und Europa. Der Komponist wurde am 7. Juli 1860 geboren.

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Gustav Mahler: Meister der Erinnerungsräume

Gehört Gustav Mahler ins 21. Jahrhundert? Zum 150. Geburtstag des Komponisten eine kleine Geschichte des Mahler-Hörens – und des Musikmissbrauchs.

Als zweites von zwölf Kindern eines jüdischen Kaufmanns wird Gustav Mahler am 7. Juli 1860 im böhmischen Kalište geboren. Als weltberühmter Dirigent stirbt er knapp 51 Jahre später in Wien. Mahlers eigentliche Geburt freilich, als Komponist, trägt sich frühestens 100 Jahre später zu, 1960 – und sein Tod ist bis heute nicht beschlossene Sache. Gehört Gustav Mahler ins 21. Jahrhundert, so wie er das 20. als dessen Prophet dominiert und beseelt hat – diese Frage vor allem haben die beiden Mahler-Jahre 2010 und 2011 zu beantworten.

Für Mahlers Spätgeburt gibt es handfeste Gründe: 1960, aus Anlass seines 100. Geburtstags, erscheinen Theodor W. Adornos legendäre Mahler-Studien („Eine musikalische Physiognomik“). Ein Jahr später folgt Kurt Blaukopfs Biografie, zudem erlischt 1961 das große Recht – Mahler zu spielen, wird für Orchester und Veranstalter plötzlich erschwinglich. Und die Schallplatte hilft, Mahlers viel beschworene „zweite Existenz“: LPs und Stereofonie bringen die räumlichen und zeitlichen Dimensionen seiner neun Symphonien in einer Weise zur Geltung, die das private Hören dem Konzerterlebnis fast ebenbürtig erscheinen lässt. Der Mahlerianer des 20. Jahrhunderts ist autark, er braucht im Zweifelsfall nicht mehr als einen guten Kopfhörer.

Gustav Mahler war eine Galionsfigur der 68er. Man rebellierte, rannte gegen Verlogenheiten und verkrustete Systeme an, erklärte Konventionen, Autoritäten und Werten den Krieg. Und Mahler lieferte dazu, als wäre diese gesellschaftliche Realität ein Film (Ein guter? Ein schlechter?), die Musik. Er führte das System Symphonie ad absurdum, indem er es radikalisierte und in die Extreme trieb: durch die Längen seiner Partituren, durch ein trivial-exotisches Instrumentarium, durch die Integration der Stimme, durchs Ausreizen der Tonalität. Bei Mahler spricht die Musik Dialekt, sie darf volkstümlich sein (das Volkstümliche ist ja nie nur tümlich!) und zugleich in den höchsten Tönen von den letzten Dingen reden. Mahler avanciert zum Weltumarmungszyniker, zum Katalysator aller zerrissenen Seelen. Das Erstaunliche daran: Die Argumente von Freunden und Feinden, von Gegnern und Verfechtern gleichen sich nicht selten aufs Haar. Die einen nennen es Sentimentalität oder Exaltiertheit, die anderen Idiomatik, die einen bezichtigen ihn wilhelminischer Fassaden, die anderen rühmen die Schärfe und Suggestivität seines poetischen Geistes.

Die zweite große Mahler-Welle rollt in der Bundesrepublik dann Anfang der Achtzigerjahre an, ein Zyklus macht dem anderen Konkurrenz, diesmal ganz ohne Jubiläum. In der Postmoderne durfte auch Gustav Mahler ohne große Konflikte seinen Platz einnehmen. Mit der trugbildhaft-romantischen Welt seiner vier Wunderhorn-Symphonien wie mit den martialisch-düsteren Gesten der Sechsten und der Siebten, mit der idealistisch-verrätselten Aura der Fünften ebenso wie mit der Hybris der Achten und der Magie der Neunten. Anything goes? Als Repertoirebildungsmaßnahme war das sicher wichtig, einen konkreten ästhetischen Befund jedoch ergab diese Bemühung nicht.

Bis heute kann man nicht von einem dezidierten Mahler-Stil sprechen. Es gibt Mahler-Dirigenten, ja: Authentische wie Bruno Walter (der den Meister noch erlebt hatte), Feuerköpfe wie Dimitri Mitropoulos oder John Barbirolli, Pathetiker wie Leonard Bernstein (der sich als erster zyklisch auf Platte verewigte), Klassizisten wie Karajan oder Giulini, Hektiker wie Georg Solti, Sachlichkeitsfanatiker wie Michael Gielen, Schöngeister wie Tennstedt oder Mehta. Man hat es eben, das Mahler’sche Überwältigungs-Gen, oder man hat es nicht.

Kaum weniger sprechend liest sich die Liste der Mahler-Verweigerer: von Furtwängler bis Harnoncourt, von Sergiu Celibidache bis Carlos Kleiber. Die Zitathaftigkeit seiner Klangwelten, ihre Dekonstruktionen, ihr notorisches sich „Ausgenießen“ (Berg) bis zur völligen Entgrenzung und Erschöpfung, das Uneigentliche, der Talmi-Glanz – das stößt viele ab. Seltsam, aber wahr: In der modernen Malerei von Picasso bis Neo Rauch ist uns diese Ästhetik wohl vertraut; in der Musik hingegen gilt sie bis heute als Verrat. Verrat an der Utopie, dass die Musik von Transzendenz und vom besseren Leben zu handeln habe, von anderen Dingen; Verrat am Versprechen, dass nach der Musik immer noch etwas kommt.

Doch was soll nach dieser Neunten sein? Posaunen, Basstuba, Schiffssirenen, schwärzestes Register gleich im Kopfsatz. Rufe aus der Unterwelt, Zerfall, Auslöschung. Von allem. Man sieht Mahler auf einem seiner letzten Fotos, 1911, auf der Überfahrt von Amerika zurück nach Europa. Eine chaplineske Figur lehnt an der Reling, ein Beinchen ums andere geschlungen, den Stock wie eine Harpune in die Bordplanken gespießt. Der Tod grüße hier förmlich aus jeder Pore, schreibt Jens Malte Fischer in seiner Mahler-Monografie „Der fremde Vertraute“ (Zsolnay, 2003). Und im Finale seiner Neunten agieren dann die Streicher allein: „Adagissimo“, sagt die Partitur, „mit inniger Empfindung“ und „mit Dämpfer“ (die ersten Geigen „stets ohne“!), alles im dreifachen Pianissimo, „ersterbend“.

Christian Thielemann immerhin muss demnächst – apropos Verweigerer – sein spätes Mahler-Debüt geben: Am 12. September 1910, vor 100 Jahren, wurde die achte Symphonie („Symphonie der Tausend“) von den Münchner Philharmonikern uraufgeführt, um dieses Datum kommt er als amtierender Münchner Generalmusikdirektor nicht herum. Wer weiß: Vielleicht tut es den Sinnlichkeitsergüssen und kitsch-katholischen Weihrauchschwaden dieser Musik gut, wenn sich ihrer ein Interpret annimmt, der von jedem Affirmationsverdacht frei ist.

Die Geschichte der Mahler-Rezeption seit 1960 ist die einer Entfremdung: Je weniger man sein Werk außermusikalisch begreift – psychoanalytisch, freudianisch, politisch, jüdisch – je mehr man es also musikalisch-kompositorisch beim Wort nimmt, desto mehr scheint es einem zu entgleiten. Konnte man sich 1968 mit Mahler noch als widerständig begreifen, so kehren mit der Festigung und Verbürgerlichung seiner Präsenz in den Achtzigern flugs die alten Vorurteile zurück. „Mahler ist ja doch der überschätzteste Komponist des Jahrhunderts … Mahler war eine Verirrung“, schreibt Thomas Bernhard 1988 in seinem Roman „Alte Meister“. Nun ist gewiss Vorsicht geboten, wenn sich ein Wahlwiener über einen anderen Wahlwiener äußert. Nur ein Jahr später aber bricht mit dem Sozialismus das Denken in antagonistischen Gesellschaftssystemen zusammen. Sicher kein Zufall.

Mahler ohne weltanschauliche Aufladung, ohne Programm zu lesen und zu hören, das haben wir nicht gelernt. Denn auch er ist, wenn man so will, missbraucht worden: Nicht nur von seinen antisemitischen Zeitgenossen, sondern auch und komplizierterweise von den „Guten“, Klugen und Kritischen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, von den Aufgeklärten, den Söhnen und Wahrheitssuchern. Hinter diesem Bollwerk aus linker Intellektualität und politischer Korrektheit wieder zur Kunst, zur Musik vorzudringen und sie nicht länger zu verkennen und ungebührlich zu verkleinern – das ist nicht leicht.

Seit dem 11. September 2001 haben sich die Brüche in unserem Welt- und Selbstverständnis unendlich vervielfältigt, alles ohnehin Montierte, Collagierte und Kolportierte scheint nur mehr in Apps und Bits und Bytes, dritte, vierte, fünfte Existenzen zu führen. Die Musik Mahlers mit ihren „vielen kleinen gleichzeitigen Dramen“, ihren „übereinander geklebten Erinnerungsräumen“ (Olga Neuwirth) könnte uns Anleitung sein, diesem Dasein eine Gestalt zu geben.

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