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Ein Mädchen in Monrovia mit den beliebten Wasserpacks, die auf der Straße verkauft werden.

© Reuters

Merkel-Roman "Bo": Die Hilfe der Anderen

Blinde Jungs sehen manchmal klarer: Rainer Merkels fulminanter Jugend- und Liberia-Roman „Bo“.

Wer die bisherigen, nicht gerade erzählprallen, eher handlungsarmen und reflexionsreichen Bücher des Schriftstellers Rainer Merkel kennt, wird bei der Lektüre der ersten Kapitel seines neuen Romans „Bo“ womöglich überrascht sein: Hauptfiguren sind der 13-jährige Benjamin, der aus Berlin stammt und in Liberia seinen als Mitarbeiter einer Hilfsorganisation tätigen Vater besuchen will; dann die 14 Jahre alte Brilliant aus den USA, die das Geburtsland ihrer Mutter kennenlernen möchte und von ihrem liberianischen Onkel begleitet wird; und ein blinder liberianischer Junge namens Bo, der gleichfalls 13 Jahre alt ist und bei dessen Familie Benjamin nach einer ereignisreichen Ankunft landet.

Ja, Rainer Merkel hat einen Jugendroman geschrieben. Und er demonstriert nicht nur erstmals einen langen erzählerischen Atem, sondern ihm gelingt es trotz eines auktorialen Erzählers bis zum Ende des Romans, das westafrikanische Land ganz aus der Perspektive seiner drei jugendlichen Protagonisten zu porträtieren (mit der Ausnahme einiger älterer Liberianer, denen die drei B’s nach und nach begegnen.)

Weniger überraschend ist, dass dieser inzwischen vierte Merkel-Roman ein Liberia-Roman geworden ist. Der Berliner Schriftsteller half in den Jahren 2008 und 2009 in Liberias Hauptstadt Monrovia das einzige psychiatrische Krankenhaus des Landes miteinzurichten. Einer der Gründe für diesen für einen Schriftsteller ungewöhnlichen Schritt war eine Schreibkrise, die Merkel jedoch nach dem LiberiaAufenthalt mit dem Krisenbuch „Das Unglück der Anderen“ bewältigte.

Darin berichtet er von jeweils knapp zweiwöchigen Reisen in den Kosovo, nach Afghanistan und einmal mehr Liberia, um hier der „Essenz des Traumas“ habhaft zu werden, dem Trauma „in seiner ganzen Gewalttätigkeit und Kraft“ nachzuspüren. „Das Unglück der Anderen“ ist eine kritische Auseinandersetzung mit der Szene der Hilfsorganisationen und NGOs; das Buch ist aber auch ein Selbsterfahrungsbericht, in dem Merkel seine eigenen Probleme diskutiert. Zum Beispiel das Dilemma, selbst Teil der NGO-Szene zu sein, gleichzeitig aber auch ständig Stoff für Bücher suchen, überhaupt stets mitschreiben zu müssen. Der Liberia-Teil dieses Buches ist dabei der gelungenste, weil natürlich erfahrungsgesättigtste; und er lässt sich zudem, da nun der Roman „Bo“ vorliegt, auch als gelungene Vorstudie lesen.

Straßenszene in Monrovia
Straßenszene in Monrovia

© Reuters

So mutet es nach der Lektüre von „Das Unglück der Anderen“ an, als käme man nach Hause, wenn Merkel seine Helden aus Berlin und den USA auf dem eine Stunde von Monrovia entfernten Flughafen in der Nacht ankommen und ihre ersten Abenteuer erleben lässt. Ein zerstochener Reifen spielt dabei eine Rolle, eine Tüte mit Habseligkeiten (darunter Benjamins Pass), die verloren geht, ein alter Mantel mit einem Haufen Geld drin – und ein zwielichtiger humpelnder Mann mit einer Machete im Hosenbein, der zusammen mit einem Automechaniker Reifenpannenopfer auszunehmen versucht. Von Beginn an geht es in „Bo“ turbulent zu, und das Schöne ist, dass man beim Lesen oft das Gefühl hat, sich nicht in einem von Bürgerkriegskämpfen zerrütteten Land zu befinden, sondern in einer leicht verwunschenen Fantasy-Welt mit dunklen Wäldern, geheimnisvollen Wasserfällen, blauen Häusern, leerstehenden Hotelpalästen und vom Regen aufgeweichten Rumpelstraßen. Nur zu gut passen da Figuren wie der blinde Bo, der alte, weise, aus Nigeria stammende Geschichtenerzähler und Beschwerdenschreiber Okogo, Bos kleine Schwester, die nur die „Kleine Spinne“ heißt, oder der junge Edward, der sich auf Geheiß des reichen Onkels um Brilliant kümmern soll und von ihr wegen seiner langen Fingernägel nur „Edward mit den Scherenhänden“ genannt wird. Benjamin, dessen Vater am Flughafen nicht auftaucht, muss sich in dieser Märchenwelt erst zurechtfinden. Gefahren lauern überall, und die hochgradig verwöhnte Brilliant mit ihren Marotten und der lebenskluge Bo nehmen sich des „Außerirdischen aus Schwedianien“, wie Bo ihn nennt, an.

Zunächst sind die drei auf der Suche nach Benjamins Vater, dann auf der nach Flower, einer psychisch kranken Frau. Stets sind sie „on the road“, auf dem Weg nicht unbedingt in die Finsternis, wie es bei Denis Johnson mit seinem Liberia-Report „In der Hölle“ der Fall war, aber doch ins Innere eines Landes, das hier noch einmal anders funktioniert als in Monrovia. Natürlich erinnert Merkels Jugendroman bisweilen an Wolfgang Herrndorfs wunderbaren Roadroman „Tschick“, zumal auch er Elemente einer Coming-of-Age-Geschichte enthält. „Bo“ jedoch ist weniger komisch, stattdessen verspielter, weiter ausholend, mitunter erzählerisch etwas wild wuchernd, besonders im Mittelteil.

Doch vor allem ist „Bo“ das Porträt eines Landes. Allein die Hauptfiguren verdeutlichen das, sie haben exemplarischen Charakter. Brilliant ist die Vertreterin der amerikoliberianischen Oberschicht, deren Großeltern ins Exil gehen mussten; Bo steht für die einheimische Bevölkerung, die am meisten unter dem fast 15 Jahre währenden Bürgerkrieg gelitten hat; und Benjamin ist der Junge mit dem fremden Blick, der mit dem Merkel-und-Hilfsorganisationen-Blick.

Man kann Rainer Merkel nur bewundern für den Mut, seine Liberia-Kenntnisse in einem Jugendroman verarbeitet zu haben, nicht in einem realistischen, womöglich semidokmentarischen AfrikaRoman. Dass sich für ihn damit als Schriftsteller neue Perspektiven ergeben, er sich als Romanautor gewissermaßen neu erfunden hat, ist der zusätzliche Lohn für diesen Mut. Und dieser verdankt sich im Übrigen, wie Merkel neulich der „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ verraten hat, dem wahren Vorbild für seinen Roman-Bo, einem elfjährigen, blinden Jungen, „einem Jungen, von dem ich immer den Eindruck hatte, dass nicht ich ihm, sondern er mir helfen würde.“

Rainer Merkel: Bo. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2013.688 Seiten, 22, 99 €.

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