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Kultur: Meschugge

Sephardisches Chaos: Memo Anjel erzählt

Das Zweite Newton’sche Gesetz und die Kabbala sollen die Brotbackmaschine zum Laufen bringen, mit deren Verkauf der Vater seiner zehnköpfigen sephardischen Familie endlich die Reise vom kolumbianischen Medellín in die heilige Stadt Jerusalem finanzieren will. Auch Zoila soll mit, das dürre schwarze Hausmädchen, das ständig schweigt und raucht und über magische Kräfte zu verfügen scheint. Dazu Onkel Chaim, der überraschend auftaucht, von der Schwindsucht dahingestreckt wird und zur Schmach des Hausarztes von den Totgesagten wieder aufersteht. Memo Anjels Roman „Das meschuggene Jahr“ (aus dem Spanischen von Erich Hackl und Peter Schultze-Kraft, Rotpunktverlag, Zürich, 194 S., 19,50 €), spielt im Medellín der 50er Jahre, dort, wo der 1954 geborene Autor aufgewachsen ist. Anjel lebt noch immer in der kolumbianischen Großstadt und arbeitet dort neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit als Professor für Kommunikationsmanagement, als Kolumnist für die Tageszeitung „El Colombiano“ und als Radioautor.

„Da die sephardischen Juden in jener Zeit gerade erst eingewandert waren und ihre Bindung an die kolumbianische Gesellschaft noch schwach war“, berichtet Anjel in der aktuellen Ausgabe der „Lateinamerika Nachrichten“ (www.lateinamerikanachrichten.de), „interessierte neben dem Zusammenhalt vor allem Nachricht aus dem Ausland, sei es durch Briefe oder Besuch“. So herrscht auch im „Hotel Amerika“, wie sich Anjels Romanfamilie nennt, ein ständiges Kommen und Gehen. Internationaler Besuch bereichert das ohnehin schon lebendige Familienleben – vor allem zu den Mahlzeiten.

„Es war ein langer, mit vielen Köpfen bestückter Tisch, über den die Wörter und Wortfetzen nur so flogen, wo einer noch einen Schlag Suppe oder Salat haben wollte, ein anderer eine Frage stellt, der dritte auf eine Frage antwortete, die gar nicht gestellt worden war, die vierte losbrüllte, weil die fünfte sie getreten hatte, und der sechste irgendeinen Propheten anrief.“ In diesem Chaos werden die Erlebnissplitter der Gäste neu zusammengefügt – wobei „Realität“ und „Fiktion“ nicht mehr zu trennen sind.

Leicht, frisch und mit viel Humor zeichnet Anjel, der gerade als Stipendiat des DAAD in Berlin lebt, nicht nur den Mikrokosmos einer sephardischen Familie, sondern eine ganze Welt, die „ein Tisch wie unserer war, endlose Gespräche und übertreibene Gesten, ausufernde Fantasien und wunderbereite Gesichter, die wie Blinklichter aufblitzten, funkelnd wie die von den Deckenlampen belebten Krüge mit Limonade und Wein.“

Memo Anjel und Christian Brückner lesen morgen um 20 Uhr im Zeughauskino des Deutschen Historischen Museums.

Annette Jahn

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